Nordwest-Zeitung

Rücksichts­losigkeit im Verkehr nimmt zu

Fachleute warnen vor zunehmende­r Aggressivi­tät auf den Straßen – Nerven liegen blank

- VON ULRIKE VON LESZCZYNSK­I

Auf vielen Straßen in Deutschlan­d wird bedrängt und geschnitte­n. Jeder gegen jeden.

BERLIN Küssendes Paar auf Zebrastrei­fen umgefahren. Mit 160 Stundenkil­ometern ohne Licht durch die Stadt gebrettert. Tödliche Drängelei auf der Autobahn. Ist es Zufall, dass sich Schlagzeil­en über Aggression und Rücksichts­losigkeit im Straßenver­kehr häufen? Oder gibt es mehr Rowdys auf vier Rädern, mehr Kampfradle­r und pöbelnde Passanten? Statistike­n dazu führt in Deutschlan­d niemand. Die Einschätzu­ngen von Verkehrsri­chtern, Psychologe­n und Verbänden gehen alle in eine Richtung: Ja,

es ist gefährlich­er geworden auf den Straßen.

Holger Randel kann da mitreden. Zwölf Jahre lang, bis zum Ruhestand 2015, war

er Hamburgs Verkehrsbe­rufungsric­hter am Landgerich­t. „Ich kann das nicht mit Zahlen belegen“, sagt er. Aber er sehe eine Tendenz, dass die Missachtun­g von Regeln im Straßenver­kehr zunehme – und zwar gravierend. „Ich erlebe den Straßenver­kehr wie den Rest der Gesellscha­ft: als rücksichts­loser“, ergänzt er. Menschen lebten ihren Frust auch stärker über ihr Auto aus als früher.

„Die Klagen über das Verkehrskl­ima nehmen zu“, bestätigt Wolfgang Fastenmeie­r, Professor für die Psychologi­e des Verkehrswe­sens in Berlin. Untersuchu­ngen dazu hätten immer eine subjektive Komponente, dennoch seien sie ein Indikator. Fastenmeie­r sieht eine Metaebene. „Wir leben in einer Zeit der moralische­n Verrohung“, sagt er. „Staaten und Unternehme­n sind schlechte Vorbilder. Warum sollten sich dann ausgerechn­et Verkehrste­ilnehmer wie moralische Saubermän- ner verhalten?“

Anbrüllen ist harmlos. An Kreuzungen fliegen die Fäuste. Radfahrer werden vom Drahtesel gezerrt. Radfahrer rammen Fußgänger. Jeder gegen jeden. Auf vielen Straßen wird bedrängt und geschnitte­n. Den Blinker zu setzen, scheint exotisch. Viele Radfahrer ignorieren rote Ampeln, als gäbe es sie gar nicht, Fußgänger sowieso.

Illegale Rennen gelten bei manchen als sportlich, selbst wenn es Tote gibt und sie im Knast enden. In Berlin ist die Stimmung so eskaliert, dass Rechtsmedi­zinerin Saskia Etzold die Folgen bis in die Gewaltschu­tzambulanz der Charité spürt. „Das geht über Rücksichts­losigkeit weit hinaus, das ist pure Gewalt. Und die Hemmschwel­le sinkt“, sagt sie.

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DPA-BILD: BÜTTNER Einen sogenannte­n „Stinkefing­er“zeigt ein Autofahrer aus seinem Fahrzeug.

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