Nordwest-Zeitung

Ein Leben zwischen den Geschlecht­ern

Lucie Veith ist intersexue­ll – Für Menschen wie sie gibt es bislang keinen Platz in der Gesellscha­ft

- VON CHELSY HAß

Intersexue­lle Menschen sind weder Mann noch Frau – sie befinden sich dazwischen. Lucie Veith kämpft für ihre Daseinsber­echtigung und ein menschenwü­rdiges Leben.

/CHORTENS/OLDENBURG Die Tür öffnet sich, Lucie Veith lächelt mich freundlich an: roter Lippenstif­t, die langen Haare lässig zusammenge­steckt, um den Hals eine bunte Kette. Vor mir scheint eine Frau zu stehen, aber der Eindruck täuscht. Lucie Veith, 61 Jahre alt und wohnhaft in Schortens (Landkreis Friesland), hat XY-Chromosome­n. Sie sieht weiblich aus und hat eine frauliche Stimme, aber auf genetische­r Ebene ist sie ein Mann. Lucie ist intersexue­ll.

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es zwei Geschlecht­er gibt: Frau oder Mann. Die Realität sieht jedoch anders aus. Intersexue­lle sind, anders als transsexue­lle Menschen, nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Sie werden sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Geschlecht­smerkmalen geboren. Nach Angaben der Bundesregi­erung leben rund 10 000 intersexue­lle Menschen in Deutschlan­d.

Männliche Gene und ein weibliches Erscheinun­gsbild. Ich frage mich zu Beginn unseres Gesprächs: Wie soll ich Lucie ansprechen? „Ich habe einen Vor- und einen Nachnamen, das reicht“, sagt Lucie. Sowohl im Gespräch, als auch beim Schreiben kann ich es allerdings nicht vermeiden, Lucie als „sie“zu bezeichnen. Es ist eine verzwickte Situation.

Denn ein eigenes Pronomen für intersexue­lle Menschen gibt es in Deutschlan­d nicht. Schweden ist da beispielsw­eise schon weiter. Seit 2015 steht das geschlecht­sneutrale Pronomen „hen“im Wörterbuch.

Schon als kleines Mädchen habe Lucie gewusst, dass sie anders ist. „Als negativ habe ich das aber nie empfunden“, erinnert sich Lucie. Erst mit Mitte 20 war klar: „Ich habe keine Gebärmutte­r, keinerlei weibliche Geschlecht­sorgane.“Stattdesse­n lagen ihre Testostero­nwerte höher als bei anderen Frauen. Die Ärzte fanden im Bauchraum liegende Hoden. Sie sagten ihr, dass sie mit Krebs befallen seien. Zwei Hiobsbotsc­haften auf einmal.

Zeit, den Schock zu verarbeite­n, habe Lucie nicht gehabt – man habe ihr gesagt, dass die Hoden entfernt werden müssten, um ihre Überlebens­chancen zu erhöhen. Was folgte, war eine Operation. Ein Eingriff, der medizinisc­h nicht notwendig gewesen wäre, wie Lucie sagt.

Genitalver­stümmelung

Denn wie sich Jahre später herausstel­lte, waren ihre Hoden gesund. Da die Ärzte diese Tatsache verschwieg­en, spricht Lucie heute von einer „uneingewil­ligten“Operation – einer Genitalver­stümmelung. Mit den im Bauchraum liegenden Hoden hätte Lucie problemlos leben können. „Es war der Versuch, mich zu vereindeut­lichen. Man wollte einen Körper reparieren, der

nicht kaputt war“, weiß sie. Auch hätten die Ärzte dazu geraten, ihre Intersexua­lität geheim zu halten. Ohne Hoden produziert­e Lucie auch kein Testostero­n mehr. Stattdesse­n wurde Östrogen verabreich­t. „Mein Körper war mit den weiblichen Hormonen maßlos überforder­t. Das hat mich in eine tiefe Krise gestürzt.“Heute nehme sie die Hormone nicht mehr.

Lucie lebt in einer weiblichen Geschlecht­errolle und ist mit einem Mann verheirate­t. „Als wir uns kennenlern­ten, war bereits klar, dass ich keine Kinder kriegen kann. Woran das lag, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Das haben mir die Ärzte verschwieg­en. Später hat uns meine Intersexua­lität einige Steine in den Weg gelegt. Aber mich als Person macht sie nicht aus, mein Mann weiß das. Ich bin, wie ich bin“, erklärt Lucie. Geschlecht­errollen und Geschlecht­eridentitä­ten seien verschiede­ne Paar Schuhe.

Invasive Operatione­n, die, wie Lucie sagt, meist kosmetisch­en Gründen dienen – das ist Realität für viele Intersexue­lle in Deutschlan­d. Schon kleine Kinder werden funktionie­rende Geschlecht­sorgane entfernt, äußere Genitalmer­kmale werden angepasst. Die Auswirkung­en, die diese Ein-

griffe auf die Psyche haben, hat Lucie am eigenen Leib erfahren. Wozu das zwanghafte Schubladen­denken in „männlich“und „weiblich“, fragt sie sich.

Eine medizinisc­he Notwendigk­eit liege in den seltensten Fällen vor. „Es ist ein Eingriff in die körperlich­e Unversehrt­heit. Sie zerstören die körperlich­e Identität der Kinder. Das darf nicht sein“, erklärt sie. „Es ist eine Kastration. Wenn zum Beispiel eine ,zu große’ Klitoris abgeschnit­ten oder oder eine künstliche Vagina, die auch nach der Operation immer wieder geweitet werden muss, angelegt werden, ist das ein traumatisc­hes Erlebnis für Kinder“, sagt Lucie.

Eigene Bezeichnun­g

In einer Selbsthilf­egruppe konnte Lucie vergangene Ereignisse aufarbeite­n. Seit 2002 setzt sie sich für die Rechte intersexue­ller Menschen ein. 2004 gründete sie den gleichnami­gen Verein „Intersexue­lle Menschen e.V.“. Von Friesland aus leitete sie von 2007 bis 2017 die Bundesgesc­häftsstell­e, seit 2014 auch die Landesgesc­häftsstell­e.

„Unser Ziel ist es, etwas in Ordnung zu bringen, was nicht in Ordnung ist“, sagt sie. Und es tut sich etwas – unter

anderem auch durch Lucies unermüdlic­hen Einsatz. Mit der Kampagneng­ruppe „Dritte Option“reichte sie Ende 2016 eine Klage für die Einführung eines dritten Geschlecht­s ein. Im November 2017 fiel eine Entscheidu­ng am Bundesverf­assungsger­icht. Demnach sei die aktuelle Regelung zum Geschlecht­seintrag verfassung­swidrig.

Künftig solle es im Personenst­andsregist­er neben „weiblich“und „männlich“eine weitere Eintragsmö­glichkeit geben. Bis Ende 201N soll das Personenst­andsgesetz geändert werden. Die Möglichkei­t ein „x“, „non-specific“oder „unknown sex“eintragen zu lassen, besteht beispielsw­eise bereits in Australien, Nepal oder Großbritan­nien.

Wie genau dieser dritte Geschlecht­seintrag in Deutschlan­d umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. Seit 201O kann das Kreuzchen „männlich“oder „weiblich“im Geburtenre­gister weggelasse­n werden, wenn das Geschlecht eines Kindes nicht eindeutig ist. „Solche Säuglinge sind aber nicht geschlecht­slos. Sie befinden sich auf einem Geschlecht­erspektrum, so kann man es zumindest sehen. Nicht wirklich das eine, aber auch nicht ganz das andere“, erklärt Lucie.

In ihren Bemühungen hat Lucie es geschafft, die Peerto-Peer-Beratung, die als Projekt in Niedersach­sen begonnen hat, bundesweit zu etablieren. Peer-to-Peer bedeutet: Gleiche beraten Gleiche. Dabei wird versucht, die Betroffene­n zu beraten, zu entlasten und zu ermutigen. Für ihren Einsatz für die Menschenre­chte Intersexue­ller hat Lucie 2017 den „Preis für das Engagement gegen Diskrimini­erung“von der Antidiskri­minierungs­stelle des Bundes erhalten. Überreicht wurde der Preis von Familienmi­nisterin Katarina Barley (SPD).

Sinn ihres Lebens

„Unsere erste und wichtigste Baustelle sind aber nach wie vor die frühkindli­chen Operatione­n, die zum Schutz der Kinder abgeschaff­t werden müssen“, sagt sie. Mit besserer Aufklärung und Beratung könne man Eltern und Familien andere Perspektiv­en aufzeigen. Denn viele Ärzte stünden dem Thema Intersexua­lität bis heute nicht offen gegenüber.

„Sind Kinder nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, hilft die Medizin nach, oftmals ohne dass den Eltern erklärt wird, was da genau passiert.“Was wäre die Alternativ­e zu frühen Geschlecht­soperation­en?

„Man sollte die Kinder in Ruhe aufwachsen lassen, egal wie ihr Genital aussieht. Solange kein gesundheit­liches Risiko besteht, was in den seltensten Fällen so ist, brauchen sie keine Operatione­n“, sagt Lucie.

Kritische Stimmen fragen, wozu man eine weitere Geschlecht­erbezeichn­ung brauche. „Denjenigen, die unsere Forderung als neumodisch­es Problem sehen, denen kann ich nur entgegenbr­ingen: Warum machen Veränderun­gen euch so viel Angst? Dass Körper und Körpergefü­hl zusammenpa­ssen, ist ein Privileg, das nicht alle genießen“, sagt Lucie. Intersexue­lle würden biologisch nicht den gesellscha­ftlichen Erwartunge­n entspreche­n. „Mit einem Umdenken und der Änderung der Bezeichnun­gen wird niemandem geschadet. Dafür wird allerdings einer kleinen Gruppe von Menschen geholfen, ihr Leben maßgeblich zu verbessern.“

Auch im Koalitions­vertrag zwischen Union und SPD wird das Thema angesproch­en. Dort heißt es: „Wir respektier­en geschlecht­liche Vielfalt. (P) Wir werden gesetzlich klarstelle­n, dass geschlecht­sangleiche­nde medizinisc­he Eingriffe an Kindern nur in unaufschie­bbaren Fällen und zur Abwendung von Lebensgefa­hr zulässig sind.“

Lucie Veith wird sich weiter dafür einsetzen, dass intersexue­lle Menschen offener und selbstbewu­sster mit ihrer Identität umgehen können. Eines ist ihrer Meinung nach sicher: Intersexue­lle Menschen wollen kein Mitleid. Sie wollen die gleichen Rechte wie jeder andere Mensch.

„Ich werde für intersexue­lle Menschen kämpfen, bis Kinder nicht mehr operiert werden. Solange werde ich durchhalte­n. Vielleicht ist das ja der Sinn meines Lebens“, sagt Lucie Veith.

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BILD: CHRISTIAN J. AHLERS Lucie Veith im Gespräch: Mit ihrem Leben als intersexue­ller Mensch geht Lucie heute offen um und engagiert sich deutschlan­dweit.

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