Tod trotz Kamera in Gefängniszelle
Vorsichtsmaßnahmen in Gefängnissen versagen mehrfach – Neuer „Leitfaden“der Ministerin
Bedienstete klagen über zu wenig Personal. Tatsächlich fehlen 202 Vollzeit-Mitarbeiter.
OLDENBURG/HANNOVER – Begünstigt fehlendes Personal die dramatisch hohe Zahl von Todesfällen und Suizid-Versuchen in Gefängnissen? Klagen von Justizangestellten legen diesen Verdacht nahe.
In die Amtszeit der neuen rot-schwarzen Landesregierung seit November 2017 fallen sechs tote Häftlinge sowie ein Insasse im schweren Koma nach einem Suizidversuch und 16 noch gerade verhinderte Selbstmord-Versuche. In 17 der insgesamt 21 Fälle gab es keine Hinweise auf eine geplante Selbsttötung. Vier Mal lagen entsprechende Hinweise vor. Drei Suizidversuche konnten schnell bemerkt werden, weil Kameras die Häftlinge überwachten.
In Oldenburg versagte am 30. Dezember diese Schutzmaßnahme komplett. Nach 40 Minuten erst wunderte man sich über den Häftling, der regungslos am Fenster war „und sich nicht bewegte“, wie es in einer vertraulichen Unterlage des Justizministeriums heißt. Der Gefangene konnte zwar noch durch einen Notarzt reanimiert werden. Der 46-Jährige starb aber am 8. Januar in einem Oldenburger Krankenhaus an einem
„Hirnödem“aufgrund des erlittenen Sauerstoffmangels durch die Schlinge, die sich der Häftling um den Hals gelegt hatte. Besonders tragisch ist, dass nach Einschätzung der behandelnden Psychiaterin der Mann sich „zunehmend stabilisiert“hatte. „Eine akute Suizidgefahr habe nicht vorgelegen“, heißt es in den Unterlagen des Justizministeriums. Eine tödliche FehlAnalyse. Gegen drei Bedienstete läuft ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung. In diesem Fall sind darüber hinaus gegen drei Bedienstete Disziplinarverfahren eingeleitet worden.
Eine dramatische Fehlein-
schätzung auch in der Rosdorfer Justizvollzugsanstalt, als der psychologische Dienst dort wenige Tage vor einem Suizidversuch einem Gefangenen keine akute Suizidgefahr unterstellte – nach der Selbststrangulierung liegt der Häftling in der Göttinger Uniklinik im Koma.
Tödlicher Irrtum auch in Lingen: Trotz positiver Bewertungen einer Psychologin erhängte sich ein 28-Jähriger mit zwei Schnürsenkeln an einem Heizungsrohr. Dort fand man den Gefangenen erst drei Stunden später – weil ein Bediensteter zufällig dem Gefangenen ein AsthmaSpray bringen wollte. Sonst
wäre die Tat noch länger unentdeckt geblieben.
Auffällig bei den 16 Suizidversuchen in nur fünf Monaten: In neun Fällen handelte es sich um ausländische Gefangene (Afghanistan, Polen, Algerien, Eritrea, Georgien, Iran) und in sieben Fällen um deutsche Häftlinge.
Der Verband der Niedersächsischen Strafvollzugsbediensteten (VNSB) klagt seit langem über fehlendes Personal im Strafvollzug. Auch das Justizministerium räumt bestehende Personal-Defizite ein. Nach offiziellen Zahlen müssten 3649 Bedienstete in Vollzeit eingesetzt sein, tatsächlich arbeiten aber nur 3447 Männer und Frauen in den Haftanstalten. Ein Minus von 5,8 Prozent zum gültigen Stellenplan.
Justizministerin Barbara Havliza (CDU) hat bereits mit einem „Leitfaden“auf die Todesfälle und Suizidversuche reagiert. So sollen mögliche Suizidneigungen im Eingangsgespräch besser abgeklärt werden. Bereits jetzt sind Schulungen vorgesehen, um die „Handlungssicherheit der Bediensteten zu erhöhen“. Weitere Maßnahmen: „Zuhörer“(„Listener“) sollen für Gespräche mit Gefangenen zur Verfügung stehen und in Notfällen ein „Video-Dolmetscher“zugeschaltet werden.