Nordwest-Zeitung

„Bis heute höre ich die Schreie meiner Kinder“

Me9lüde Genç 9erlor in der 3acht des 2:. Mai 1::; fünf Angeh<rige

- VON INGO LEHNICK

FRAGE: Bei dem Brandansch­lag am 29. Mai 1990 haben Sie zwei T1chter2 zwei $nkelinnen und eine 3ichte verloren. Wie sehr schmerzt der 4erlust heute noch? GENÇ: Bis heute habe ich die Nacht des Anschlags vor Augen und höre die Schreie meiner Kinder, die in den Flammen verbrannte­n. Der Schmerz über ihren Verlust ist immer in meinem Herzen und wird bis zu meinem Lebensende nicht aufhören. Er hat dazu geführt, dass ich keine Lebensfreu­de mehr empfinden kann. Ich bin zwar auf der Erde, aber es fühlt sich nicht so an, als ob ich wirklich leben würde. FRAGE: Sie haben trotzdem schon kurz nach dem Anschlag zur 4ers1hnung aufgerufen und sich seither für 4erst5ndig­ung eingesetzt. Was hat Ihnen die Kraft dafür gegeben? GENÇ: Diese Kraft hat mir mein Schöpfer gegeben. Ich

habe Gott angefleht, dass er mir Kraft und Geduld geben möge. Der Verlust der eigenen Kinder ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann. Ich wollte nicht, dass auch andere Menschen dieses Leid erfahren müssen. Deswegen habe ich gesagt: Lasst uns alle zusammen für Versöhnung, Menschenfr­eundlichke­it und ein friedliche­s Miteinande­r eintreten, damit solche Taten nicht noch einmal verübt werden. FRAGE: Was hat Sie bewogen2 in Solingen zu bleiben? GENÇ: Ich kam mit 27 Jahren aus der Türkei nach Solingen. Nach dem Anschlag wurde ich gefragt, ob ich lieber in einer anderen Stadt leben will. Das habe ich abgelehnt. Solingen ist zu meiner Heimat geworden, und ich möchte hier bleiben, bis ich sterbe. FRAGE: Sorgen Sie sich um die Zukunft Ihrer Kinder und $nkel? GENÇ: Ich habe keine großen Sorgen um die Zukunft meiner Kinder. Sie führen ein normales Leben, werden größer, gehen zur Schule und haben viele Freunde – Deutsche und Türken. Sie treffen sich, machen gemeinsam Hausaufgab­en, unterhalte­n sich oder unternehme­n etwas zusam-

men. Ich blicke mit Zuversicht auf die Zukunft meiner Kinder und Enkel. Und ich bin stolz auf sie. FRAGE: Welche Botschaft sollte vom 25. Jahrestag des Brandansch­lags ausgehen? GENÇ: Ich möchte alle einladen, an diesem bitteren Tag mit mir zu sein und meinen Schmerz zu teilen. Wir sollten in diesem Land friedlich und liebevoll zusammenle­ben und keinen Unterschie­d machen zwischen den Nationalit­äten. Wir sind doch alle Menschen und sollten uns auch wie Menschen verhalten. FRAGE: Sie leben viereinhal­b Jahrzehnte in Deutschlan­d. Wie wichtig sind Ihre türkischen Wurzeln für Ihr Leben? GENÇ: Natürlich ist mein Herkunftsl­and wichtig für mich. Aber letztlich macht es keinen Unterschie­d, woher ich stamme. FRAGE: Die Teilnahme des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Cavusoglu an den Gedenkvera­nstaltunge­n sorgt hierzuland­e für viel Kritik... GENÇ: Es erfüllt mich mit tiefer Trauer, dass das Gedenken von politische­n Auseinande­rsetzungen überschatt­et wird. Der Entschluss, dass der Außenminis­ter eine Rede halten soll, wurde bereits im Februar gefasst. Einen Zusammenha­ng mit den vorgezogen­en Wahlen in der Türkei herzustell­en, ist daher mindestens unschlüssi­g. Jedes Jahr nehmen sowohl türkische als auch deutsche Vertreter an der Gedenkvera­nstaltung teil; jedem Einzelnen bin ich zu großem Dank verpflicht­et. Keiner der Repräsenta­nten hat auch nur ansatzweis­e daran gedacht, die Gedenkvera­nstaltung für die eigenen politische­n Zwecke zu instrument­alisieren. Ich habe nicht die geringsten Zweifel daran, dass dies dieses Jahr genauso sein wird.

6Solingen ist zu meiner 7eimat geworden2 und ich m1chte hier bleiben2 bis ich sterbe8

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