Vhirurgen-Krimi im Klinikum
In Oldenburg gibt es Streit um eine zu hohe Sterberate bei bestimmten Bauchspeicheldrüsen-Operationen
In der Diskussion um erhöhte Sterberaten geht es nicht nur um medizinische Fragen. Es geht auch darum: Wer verfolgt welche Interessen?
OLDENBURG Er hat alles aufgeschrieben, „massive Missstände“, wie er es nennt, „erhebliche Defizite“, aber jetzt ringt der Oberarzt mit sich: Soll er seinen Namen unter das Papier setzen oder nicht? Er hat längst gekündigt, heute ist sein letzter Arbeitstag im Klinikum Oldenburg, ach, was soll’s, er unterschreibt: Datum, Name. Dann gibt er die zwei Din-A4-Seiten persönlich im Vorstandsbüro ab. Es ist der 27. Februar 2018. I. KAPITEL:
DIE TOTEN
In dem Schreiben zeigt der Oberarzt Mobbing an, Arbeitszeitverstöße, aber vor allem ein Punkt hat es in sich: In der Abteilung sei die Patientensterblichkeit nach speziellen BauchspeicheldrüsenOperationen viel zu hoch. Die sogenannten Pankreaskopfresektionen gelten als höchst anspruchsvoll, und der Oberarzt will vor allem bei Beteiligung eines bestimmten Chirurgen zu viele Todesfälle gezählt haben. In der wissenschaftlichen Literatur wird die tolerierbare Sterblichkeit nach solchen Operationen in Kliniken mit bis zu zehn Prozent angegeben, in Pankreaszentren mit bis zu fünf Prozent. Das Klinikum ist ein Pankreaszentrum – und der Oberarzt hat eine Sterblichkeit von 30 Prozent errechnet.
Er hat Buch geführt über einen Zeitraum von zehn Monaten und 20 Operationen aufgelistet. Sechs davon endeten tödlich, in 60 Prozent der Fälle gab es Komplikationen.
Der Oberarzt weiß natürlich, dass er es mit dem „Problem der kleinen Zahl“zu tun hat. Zufall, Pech, einzelne Ausschläge können eine solche Statistik schnell ins eine oder andere Extrem ausschlagen lassen. Er weiß auch, dass Sterblichkeit ein schwieriges Qualitätskriterium ist, weil in der Medizin zahlreiche Aspekte aufeinander einwirken, Ärzte verwenden gern das Wort „multifaktoriell“: Wie alt ist der Patient? Welche Vorerkrankungen hat er? Ist eine Operation seine letzte Chance oder womöglich sein Todesurteil?
„Natürlich“, sagt der Oberarzt, „jeder Fall steht immer für sich. Aber die Summe zeigt auch: Da stimmt etwas nicht, da ist ein Problem.“
Im Klinikum Oldenburg dürften bei einem solchen Problem ganz besonders laut die Alarmglocken läuten, denn hier gab es den Fall des Serienmörders Niels Högel – und es gibt den Vorwurf, das Klinikum sei damals Hinweisen auf eine gestiegene Zahl an Todesfällen nicht nachgegangen. KAPITEL 2:
ERSTE HINWEISE
Was der Oberarzt nicht weiß zu diesem Zeitpunkt: Er ist nicht der Erste, der derartige Vorwürfe zur Anzeige bringt. Bereits im Januar 2015 hat ein anderer Oberarzt die Zustände in der Abteilung kritisiert – und auch er erstellte eine Statistik, die auf eine zu hohe Sterberate nach Pankreas-Operationen hinweist,
vor allem unter Beteiligung eines bestimmten Chirurgen. Sein Ergebnis: 16 Operationen, drei Todesfälle, macht 19 Prozent. Der Oberarzt schreibt mehrere Brandbrief, die er dem Abteilungsleiter übergibt, Professor Dr. HansRudolf Raab, und dem Vorstand des Klinikums.
Klinikvorstand Dr. Dirk Tenzer bittet per E-Mail um Aufklärung, Professor Raab nimmt seinen Mitarbeiter in Schutz. Er nennt die Vorwürfe „haltlos“, als Operateur sei der Chirurg qualifiziert.
Der Oberarzt schreibt zornige weitere Briefe. Im Oktober 2016 reagiert Raab schließlich und gibt unter dem Betreff „Pankreasoperationen“eine Anweisung für den beschuldigten Chirurgen und seinen Stellvertreter heraus: „Für jede Pankreasoperation bin ich als Operateur vorzusehen. Ich werde dann von Fall zu Fall entscheiden, ob ich den Eingriff auch selbst durchführe oder einem von Ihnen assistiere.“
Der beschuldigte Chirurg reagiert seinerseits mit einem wütenden Brief, in dem er alle Vorwürfe zurückweist, die Operations-Anweisung „sehr schwierig“nennt und von „Absurdität“spricht.
„Der war sauer“, erinnern sich Kollegen. KAPITEL 3:
DER KÖNIGMORD
Im Klinikalltag geht es schon mal deftig zu. In den Beschwerdebriefen ist von zotigen Sprüchen die Rede und von heftigen Wutausbrüchen. Chirurgen gelten nicht selten als eitle und empfindsame Menschen, in dieser Abteilung gerieten offenbar immer wieder Kollegen aneinander. Der Briefeschreiber vom Januar 2015, habilitiert, sehr erfahren, eindrucksvoller Lebenslauf, fühlte sich nicht entsprechend seiner Fähigkeiten eingesetzt. Dem beschuldigten Chirurgen, der hingegen früh das Vertrauen des Chefarztes gewann, warf er Inkompetenz vor. Zeugen berichten, dass es regelmäßig Streit gab zwischen den beiden Männern, in mindestens einem Fall soll es beinah zu Handgreiflichkeiten gekommen
sein.
Am Ende verließ der Briefeschreiber das Klinikum, man hatte es ihm so nahegelegt.
Auch der zweite Briefeschreiber vom Februar 2018 berichtet von häufigen Streitereien mit dem Chirurgen. Er spricht von Mobbing und von sexuellen Anspielungen; er sagt, solche Zustände habe er noch nie erlebt. Er zog dann selbst die Konsequenz und kündigte nach wenigen Monaten.
Aber der beschuldigte Chirurg, der blieb.
Im März 2017 wird plötzlich vorübergehend der Chefarzt suspendiert, Professor Raab. Kurz darauf veröffentlicht das Klinikum eine Pressemitteilung, in der von einer Trennung aus „persönlichen Gründen“die Rede ist. Wenige Tage später berichtet die Presse von staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen Raab, der Vorwurf: Verdacht der falschen ärztlichen Behandlung und des Abrechnungsbetrugs.
Nach Informationen der Ð war der Auslöser von Suspendierung und Ermittlung ein achtseitiges Schreiben, voller Vorwürfe gegen Raab, das über das neue Whistleblowing-System des Klinikums an den Hausjuristen ging.
Als Autor des Schreibens gilt: der beschuldigte Chirurg, dem Raab die Pankreas-Operationen untersagt hatte. Der
Chirurg operierte nun wieder. KAPITEL 4:
INTERESSEN UND INTRIGEN
In Oldenburg kursiert seit einigen Wochen ein mehr als 60-seitiges „Memorandum“mit dem Titel „Das Klinikum Oldenburg am Abgrund“. In acht Kapiteln listen die anonymen Autoren die aktuellen Probleme des Klinikums auf, es geht um das Millionen-Defizit des Hauses, um Personalmangel, um Misstrauen und Frustration. Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit den Vorwürfen rund um die Sterbefälle im Bereich der Pankreas-Operationen.
Es gibt eine Reihe Personen, die eine Rechnung mit dem beschuldigten Chirurgen offen haben könnten. Das „Memorandum“zielt aber auf eine weitere Person: Klinikvorstand Dirk Tenzer. Die Autoren des Papiers empfehlen „einen personellen Neubeginn“an der Spitze des Hauses, kurz: den Rauswurf Tenzers. Auch das Kapitel um die Sterberate läuft folgerichtig auf die Frage hinaus: Wie geht der Vorstand mit solchen Hinweisen um? Gefährdet Herr Tenzer möglicherweise Patientenleben durch Mntätigkeit? KAPITEL 5:
DER VORSTAND
Von Tenzer
ist der Satz überliefert: „Ich bin doch nicht blöd und setze mich nach dem Fall Högel derartigen Vorwürfen ausN“
Nach den ersten Hinweisen auf eine zu hohe Sterblichkeit im Bereich der Pankreas-Operationen hat der Vorstand nicht nur den Chefarzt um Aufklärung gebeten, er hat auch interne Prüfungen angestellt und ein externes Gutachten in Auftrag gegeben, das zeigen verschiedene Dokumente. Ebenso nach dem zweiten Hinweis 2018. Das Ergebnis: „Wir konnten weder die geschilderten Vorwürfe noch die Schilderungen zu einem OP-Verbot nachvollziehen. Dieses hat es meiner Kenntnis nicht gegeben“, sagt Tenzer.
Den Prüfberichten zufolge ließen sich OP-Sterberaten in Höhe von zuletzt 23 Prozent feststellen, davor in Höhe von 17 und 18 Prozent – noch zu Zeiten des früheren Chefarztes. Mitarbeiter des Klinikums präsentieren Vergleichstabellen mit anderen Häusern in Deutschland, laut denen sich Oldenburg mit diesen Zahlen im Mittelfeld befindet.
Allerdings gilt erstens: Wenn man die in der medizinischen Literatur gängigen Quoten von fünf oder zehn Prozent zum Maßstab nimmt, sind auch diese Zahlen viel zu hoch.
Zweitens bleibt das Problem der kleinen Zahl und der angelegten Bezugsgrößen. Die Prüfer kommen auf eine OP-Zahl von 39 – werden hier auch simplere Eingriffe als die Pankreaskopfresektionen eingerechnet? Mnd noch einmal: Wer wird überhaupt operiert? Der Oberarzt, der an seinem letzten Tag seinen Beschwerdebrief abgab, zieht zum Vergleich ein kleineres Haus aus Bayern heran, das bei 25 Pankreas-Operationen eine Sterblichkeit von vier Prozent erreicht, „die Vorgaben lassen sich auch bei kleinen Zahl einhalten“, folgert er daraus.
Er räumt ein, dass in dem kleinen Haus Patienten im Durchschnittsalter von 65 Jahren operiert worden waren. In Oldenburg weiß er von Fällen, wo die Patienten weit über 80 waren und multipel erkrankt. Jeder Fall steht für sich? Musste man hier operieren? Zwei Ärzte, drei Meinungen, heißt es landläufig.
Das Klinikum Oldenburg hat deshalb auch die Vorwürfe vom Februar 2018 an eine externe Firma zur Begutachtung vergeben. Die Prüfung laufe, heißt es, Ergebnisse seien wohl frühestens im August zu erwarten. Der beschuldige Chirurg dürfe so lange keine Pankreas-Operationen vornehmen, heißt es weiter, und: Die Empfehlungen der Gutachter zur Qualitätsverbesserung habe man bislang immer umgesetzt.
Vom Ärztlichen Direktorium des Klinikums ist allein die Stellungnahme bekannt, dass man den beschuldigten Chirurgen aufgrund der Mobbing-Vorwürfe nicht geeignet für Leitungsposten halte. Im Hinblick auf die Vorwürfe zu den Sterbezahlen verweist das Direktorium auf das ausstehende externe Gutachten.
Tenzer sagt, die Vorwürfe könnten eine „Beschädigung unseres Hauses und des Arztes“darstellen. Gegen die unbekannten Autoren des „Memorandums“, in dem der Fall eine Rolle spielt, hat er Strafanzeige erstattet wegen übler Nachrede und geschäftsschädigenden Verhaltens. KAPITEL 6:
VORLÄUFIGER EPILOG
Im Fall Raab dauern die Ermittlungen weiter an.
Der Oberarzt, der 2015 erstmals die zu hohe Sterberate bei Pankreas-Operationen anzeigte, arbeitet mittlerweile in einem anderen Haus in Norddeutschland.
Sein Kollege, der im Februar 2018 die Vorwürfe erneuerte, hat eine Leitungsposition in einem anderen Teil Deutschlands übernommen. Er sagt, eigentlich könne es ihm ja jetzt egal sein, was Oldenburg mit seinen Hinweisen anstelle, „aber es geht doch um die Patienten“.
Vor wenigen Tagen hat er ein Arbeitszeugnis aus Oldenburg bekommen. Mnterschrieben hat es der Chirurg, dem der Oberarzt „massive Missstände“und „erhebliche Defizite“vorgeworfen hat. Das Zeugnis fällt vernichtend aus.