1968 – ein Mythos entsteht
6ie Philosophen auf die Protestbewegung der Studenten reagierten
Der Soziologe und mehrfache Buchautor Stefan Müller-Doohm, seit 1974 an der Uni Oldenburg aktiv, erklärt, wie es damals zur Eskalation kam. Und wie sich intellektuelle Lager bildeten.
OLDENBURG In den zahlreichen Rückblicken auf das Epochenjahr 1968 ist viel von den äußerlichen Erscheinungsbildern der antiautoritären Jugend die Rede. Die einst langen Haare mancher Aktivisten rufen nostalgische Erinnerungen hervor und die zur Schau gestellte sexuelle Freizügigkeit scheint in neuer Perspektive immer noch Stein des Anstoßes zu sein, ebenso die Happenings und SpontiSprüche: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“.
Indem man diese ironische Art und Weise der Selbstinszenierung hervorhebt, wird ausgeblendet, dass es konkrete Anlässe und Auslöser für die Empörung gab. Das war zuallererst ein immobiles Bildungssystem, eine erstarrte Universität mit autoritären Abhängigkeitsverhältnissen.
Als weiteres Motiv für die Proteste kam außenpolitisch die Eskalation des Vietnamkrieges und innenpolitisch die Planungen für die Notstandsgesetze sowie das Machtkar-
tell der Großen Koalition von Christ- und Sozialdemokraten hinzu.
Die Demonstrationswellen wurden in der Öffentlichkeit umso stärker registriert, wie es der Außerparlamentarischen Opposition gelang, sich medial wirksamer Ausdrucksformen zu bedienen. Direkte Aktionen und Sit-ins erfuhren durch die Berichterstattung eine erhebliche Breitenwirkung.
Eine Dynamik der Radikalisierung wurde dann erst durch die staatlichen Sanktionen in Gang gesetzt, etwa durch den brutalen Einsatz der Polizei im Sommer 1967 gegen die Demonstration aus Anlass des Staatsbesuchs des Schahs von Persien, bei der der Student Benno Ohnesorg von einem Polizeiobermeister von hinten erschossen wurde. Dies war das Fanal für alles Folgende
Im Handgemenge
Dieses Ereignis, das von einer bislang nicht dagewesenen publizistischen Kampagne des Pressekonzerns Springer begleitet wurde („Studenten drohen: Wir schießen zurück“),
veranlasste namhafte Philosophen wie Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, sich mit der Protestbewegung intellektuell auseinander zu setzen: solidarisch und kritisch zugleich.
Einerseits haben sie den Diskussionsbedürfnissen der politischen Studenten Rechnung getragen und andererseits Bedenken gegen die Strategie der gezielten Regelverletzung vorgebracht. So bezeichnete Habermas die staatlich sanktionierte Polizeiaktion gegen die Demonstranten als Terror im Sinne gezielter Einschüchterung. Er warnte aber auch davor, die institutionell eingebundene Gewalt durch Gegengewalt zu provozieren.
Als nonkonformistische Intellektuelle hatten Adorno und Habermas eine Art Vorbildfunktion. Denn sie gingen das Risiko ein, auf dem Forum der Öffentlichkeit immer wieder politisch zu intervenieren, nicht zuletzt, um sich für die Forderungen der Protestbewegung nach Ausdehnung der Demokratie als Lebensform auf vorpolitische Sphären stark zu machen, wie die Familie, den Betrieb, die Schule, die Medien und die Universität. Beide Philosophen lieferten in unterschiedlicher Weise die zeitdiagnostischen
Deutungen und analytischen Kategorien einschließlich eines neomarxistischen Vokabulars, auf die sich die Neue Linke mit ihren Fundamentalkritiken an der Gesellschaft des Spätkapitalismus und seinen Krisenphänomenen bezogen haben.
Bis zum Kampf
Ein auffälliges Merkmal der öffentlichen Debatten zwischen der Neuen Linken auf der einen sowie Adorno und Habermas auf der anderen Seite besteht im Rückblick gesehen darin, dass diese Debatten im Zuge zunehmender intellektueller Frontenbildung einer Eigendynamik gehorchen.
Diese Eigendynamik manifestiert sich in einer Eskalation, die typischerweise von der ersten Stufe des Miteinanders auf sachlicher Ebene zur zweiten Stufe des kontrovers ausgetragenen Deutungskonkurrenz zur dritten Stufe des Streits bis zur vierten Stufe des Kampfes gegensätzlicher Lager ging.
So zeigen die Kontroversen 1967/68 im Rückblick sehr deutlich: Wenn sich intellektuelle Lager bilden, kommt es dazu, dass sich die Kontrahenten wechselseitig blockieren und eine Konsensfindung erschwert wird, eine Konsensfindung, die auf das sich Überzeugenlassen durch Argumente angewiesen ist.
Autor dieses Beitrages ist Stefan
Müller-Doohm. Der 75-jährige emeritierte Professor lebt in Oldenburg. Er veröffentlichte Biografien über Habermas und Adorno.