Hier rollt ab heute der Ball
Russland zum Auftakt gegen Saudi-Arabien – DFB-Elf startet Sonntag
Präsident Putin wird sein Megaprojekt zur Selbstinszenierung nutzen. Bei der Eröffnungsfeier fehlen westliche Politiker.
MOSKAU – Eine weitere Propaganda-Show à la Sotschi oder doch die von der Fifa ausgerufene „beste WM aller Zeiten“? Wenn sich 1432 Tage nach der deutschen Sternstunde von Rio am Donnerstag der Vorhang für die 21. Fußball-Weltmeisterschaft im LuschnikiStadion hebt, ist die Bühne im Riesenreich Russland bereitet.
Wladimir Putin hat keine Kosten und Mühen gescheut und wird sein Megaprojekt vor allem als Selbstinszenierung nutzen. Ob Fifa-Kongress oder Eröffnungsfeier – in diesen Tagen läuft nichts ohne den Kremlchef. Putin verspricht ein Fest „voller Leidenschaft und Emotionen“. Die Strahlkraft von Lionel Messi, Cristiano Ronaldo oder Neymar soll all die Kritikpunkte
wie Korruption, Doping, Menschenrechte, Rassismus oder Hooligan-Gewalt vergessen lassen.
Beim Eröffnungsspiel zwischen der Gastgeber-Elf und Saudi-Arabien an diesem Donnerstag (17 Uhr/ARD)
wird Putin in der Ehrenloge vielleicht mit seinem Freund Gerhard Schröder, aber kaum mit westlichen Staatschefs anstoßen können. Großbritanniens Außenminister Boris Johnson hatte das Turnier im Zuge der Affäre um den vergifteten Ex-Agenten Sergej Skripal gar mit den Nazi-Spielen 1936 in Berlin verglichen.
Für Weltmeister Deutschland, der in Watutinki vor den Toren Moskau logiert, geht es am Sonntag (17 Uhr/ZDF) gegen Mexiko los. Bundestrainer Joachim Löw will eine deutsche Elf erstmals zur Titelverteidigung führen, weiß aber um die Schwere der Aufgabe: „Es muss einfach alles passen. Deutschland wird gejagt werden wie nie.“
Als Sparwasser traf, war ich am Boden. Das 1:0 der Ostdeutschen gegen uns im Vorrundenspiel der FußballWM 1974 war für einen Achtjährigen die Hölle. Dabei hatten wir doch Beckenbauer, Müller, Maier und Overath in unserer Mannschaft. Und auch mein Held Günter Netzer kam nach seiner Einwechselung nicht mehr aus der Tiefe des Raumes. Das dritte und entscheidende Gruppenspiel ging verloren gegen „die von drüben“. Die DDR war wieder wer – sagte jedenfalls Kommentator Heinz-Florian Oertel.
Ohne dass ich es damals bemerkt hätte, hatte die Fußball-WM etwas in mir ausgelöst. Schon beim Sammeln der Spielerbildchen des Bergmann-Verlags aus Unna – ein Tütchen 20 Pfennig – war mir nicht entgangen, dass Hoeneß, Grabowski und Heynckes aus München, Frankfurt und Gladbach genauso aussahen wie Croy, Kurbjuweit und Streich aus Zwickau, Jena und Rostock. Wenn ich mir 44 Jahre später das Panini-Album meines Sohnes – Tütchen 90 Cent – ansehe, steht da immer noch ein Müller im deutschen Kader, inzwischen heißen unsere Nationalspieler aber auch Boateng, Khedira und Özil.
Der Fußball hierzulande ist eben ein Spiegel unserer Gesellschaft: ob es nun der Wirtschaftswunderweltmeister von 1954 war oder der vom Einheitsfinalsieg 1990 beseelte Teamchef. Und als perfekter WM-Gastgeber 2006 hatten wir uns nicht nur bei der Halbfinalniederlage den Italienern gegenüber spendabel gezeigt, sondern schon sechs Jahre zuvor als Bewerber gegenüber den kleinen Verbänden in aller Welt beim Stimmenfang. Ach, was soll’s, könnte man sagen, dafür hatten wir einen tollen Sommer.
Als Götze ihn machte, war ich obenauf. Der Titel 2014 war verdient und bot Anlass für Friede, Freude, Eierkuchen. Vier Jahre später sind wir wieder verzagt, und wieder setzen wir auf den Fußball – als Opium fürs Volk.
@ Den Autor erreichen Sie unter schulzo@infoautor.de