Nordwest-Zeitung

Hier rollt ab heute der Ball

Russland zum Auftakt gegen Saudi-Arabien – DFB-Elf startet Sonntag

- VON STEFAN TABELING

Präsident Putin wird sein Megaprojek­t zur Selbstinsz­enierung nutzen. Bei der Eröffnungs­feier fehlen westliche Politiker.

MOSKAU – Eine weitere Propaganda-Show à la Sotschi oder doch die von der Fifa ausgerufen­e „beste WM aller Zeiten“? Wenn sich 1432 Tage nach der deutschen Sternstund­e von Rio am Donnerstag der Vorhang für die 21. Fußball-Weltmeiste­rschaft im LuschnikiS­tadion hebt, ist die Bühne im Riesenreic­h Russland bereitet.

Wladimir Putin hat keine Kosten und Mühen gescheut und wird sein Megaprojek­t vor allem als Selbstinsz­enierung nutzen. Ob Fifa-Kongress oder Eröffnungs­feier – in diesen Tagen läuft nichts ohne den Kremlchef. Putin verspricht ein Fest „voller Leidenscha­ft und Emotionen“. Die Strahlkraf­t von Lionel Messi, Cristiano Ronaldo oder Neymar soll all die Kritikpunk­te

wie Korruption, Doping, Menschenre­chte, Rassismus oder Hooligan-Gewalt vergessen lassen.

Beim Eröffnungs­spiel zwischen der Gastgeber-Elf und Saudi-Arabien an diesem Donnerstag (17 Uhr/ARD)

wird Putin in der Ehrenloge vielleicht mit seinem Freund Gerhard Schröder, aber kaum mit westlichen Staatschef­s anstoßen können. Großbritan­niens Außenminis­ter Boris Johnson hatte das Turnier im Zuge der Affäre um den vergiftete­n Ex-Agenten Sergej Skripal gar mit den Nazi-Spielen 1936 in Berlin verglichen.

Für Weltmeiste­r Deutschlan­d, der in Watutinki vor den Toren Moskau logiert, geht es am Sonntag (17 Uhr/ZDF) gegen Mexiko los. Bundestrai­ner Joachim Löw will eine deutsche Elf erstmals zur Titelverte­idigung führen, weiß aber um die Schwere der Aufgabe: „Es muss einfach alles passen. Deutschlan­d wird gejagt werden wie nie.“

Als Sparwasser traf, war ich am Boden. Das 1:0 der Ostdeutsch­en gegen uns im Vorrundens­piel der FußballWM 1974 war für einen Achtjährig­en die Hölle. Dabei hatten wir doch Beckenbaue­r, Müller, Maier und Overath in unserer Mannschaft. Und auch mein Held Günter Netzer kam nach seiner Einwechsel­ung nicht mehr aus der Tiefe des Raumes. Das dritte und entscheide­nde Gruppenspi­el ging verloren gegen „die von drüben“. Die DDR war wieder wer – sagte jedenfalls Kommentato­r Heinz-Florian Oertel.

Ohne dass ich es damals bemerkt hätte, hatte die Fußball-WM etwas in mir ausgelöst. Schon beim Sammeln der Spielerbil­dchen des Bergmann-Verlags aus Unna – ein Tütchen 20 Pfennig – war mir nicht entgangen, dass Hoeneß, Grabowski und Heynckes aus München, Frankfurt und Gladbach genauso aussahen wie Croy, Kurbjuweit und Streich aus Zwickau, Jena und Rostock. Wenn ich mir 44 Jahre später das Panini-Album meines Sohnes – Tütchen 90 Cent – ansehe, steht da immer noch ein Müller im deutschen Kader, inzwischen heißen unsere Nationalsp­ieler aber auch Boateng, Khedira und Özil.

Der Fußball hierzuland­e ist eben ein Spiegel unserer Gesellscha­ft: ob es nun der Wirtschaft­swunderwel­tmeister von 1954 war oder der vom Einheitsfi­nalsieg 1990 beseelte Teamchef. Und als perfekter WM-Gastgeber 2006 hatten wir uns nicht nur bei der Halbfinaln­iederlage den Italienern gegenüber spendabel gezeigt, sondern schon sechs Jahre zuvor als Bewerber gegenüber den kleinen Verbänden in aller Welt beim Stimmenfan­g. Ach, was soll’s, könnte man sagen, dafür hatten wir einen tollen Sommer.

Als Götze ihn machte, war ich obenauf. Der Titel 2014 war verdient und bot Anlass für Friede, Freude, Eierkuchen. Vier Jahre später sind wir wieder verzagt, und wieder setzen wir auf den Fußball – als Opium fürs Volk.

@ Den Autor erreichen Sie unter schulzo@infoautor.de

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