„Nach dem Krieg wurde vieles verdrängt“
=;AGE8 Herr Kellner, Sie haben ein Buch über die Führungskräfte in Leer und ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus geschrieben. Was war der Anlass? KELLNE;8 In meiner Zeit als Bürgermeister in Leer gab es einen Zufallsfund im Stadtarchiv. Ein gewisser Heinrich Ukena hatte sich 1934 brieflich beim Innenminister über den damaligen Leeraner Bürgermeister beschwert. Grund war der Ausbau der historischen Kaiserfenster im Rathaussaal. Ich habe dann herausgefunden, dass Ukena mit anderen Männern zusammen 1938 ins Konzentrationslager Buchenwald gekommen ist und dort gestorben ist. Ich fragte mich, wie konnte so etwas geschehen und wer war daran beteiligt. Das war der Beginn der Recherche. =;AGE8 Wie kommt es, dass solche Dinge erst 70 oder 80 Jahre danach erforscht werden? Haben Sie dafür eine Erklärung?
KELLNE;8 Man muss dazu sagen, dass nach dem Krieg vieles verdrängt wurde. Man wollte auch nichts Genaues wissen. Viele Unterlagen sind bewusst vernichtet worden. Für einen Autor ist die Recherche zudem ein langwieriger und aufwändiger Prozess. Man muss bereit sein, Akten aus weit entfernten Archiven auszuwerten – zum Beispiel in London, Moskau, natürlich auch die Unterlagen in den Landesarchiven. Es schlummert sicher noch mehr in den Beständen. Es gibt zum Glück noch einige Mitstreiter in der Region, die ebenfalls lokale
Verhältnisse erforschen. =;AGE8 Sie beschreiben in Ihrem Buch die Wiederherstellung der sogenannten Kaiserfenster im Leeraner Rathaus. Muss man Dinge aus einer ebenfalls nicht-demokratischen Zeit zum Gegenstand von Erinnerungskultur machen? Wie sind Ihre Erfahrungen damit? KELLNE;8 Ja, ich denke, dass es sehr wichtig ist, die historische Entwicklung von der Kaiserzeit bis zur Bundesrepublik mit all den geistigen Strömungen darzustellen und daran zu erinnern. Denn die Nazis sind ja 1933 nicht von einem frem- den Planeten kommend über die Deutschen hergefallen. Es ist kein zufälliger „Vogelschiss“, um das schlimme Wort einmal aufzugreifen, sondern die NS-Zeit ist eingebettet in die deutsche Geschichte seit der „Wilhelminischen“Zeit. Eine andere Interpretation wäre Geschichtsfälschung. Im Übrigen haben wir die Kaiserfiguren auf den Fenstern ja nicht in Glanz und Gloria dargestellt, sondern künstlerisch verfremdet. =;AGE8 Ihr Thema war Verfolgung von politisch Andersdenkenden und der Antisemitismus am Beispiel der Stadt Leer. Lässt sich das auf andere Kommunen in der Region übertragen? KELLNE;8 Die Strukturen sind überall ähnlich gewesen, es war ja alles zentral gelenkt. Natürlich gibt es örtliche Besonderheiten. Aber die Abläufe und die Ideologie, die dahintersteckte, waren die gleichen. Man kann das auch auf andere Städte und Kommunen übertragen.