DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS
24. FORTSETZUNG
„Du bist krank, du kannst nicht alleine aufstehen, das weißt du doch. Du musst sitzen oder noch besser liegen.“
„Meine Mutter liegt auch“, sagte da eine Stimme hinter ihnen. Frau Hoffmann fuhr herum. Dieser Gregor war ihr einfach gefolgt und stand jetzt mitten im Wohnzimmer.
„Sie liegt den ganzen Tag lang im Bett. In einem Koma, weil sie einen Unfall auf dem Parkplatz hatte. In einem Koma macht man gar nichts. Man träumt nur. Von Fahrrädern oder Menschen. Man merkt auch nichts. Ob es kalt ist zum Beispiel. Oder wie das Wetter ist. Es regnet ja heute, aber das merkt sie nicht, weil sie im Koma liegt. Es könnte auch einen Tsunami geben und sie würde es nicht merken.“
Frau Hoffmann und ihre Schwiegermutter starrten den Jungen an wie eine Erscheinung.
„In der Tat“, gelang es Frau Hoffmann endlich zu sagen. Elvira hatte vor lauter Verblüffung aufgehört zu jammern.
„Hatten Sie auch einen Unfall?“, erkundigte sich Gregor bei der Schwiegermutter. Dann lief er durch das Zimmer und betrachtete hemmungslos alle Fotos, die Basketballtrophäen aus Max’ Schulzeit, den Mark-RothkoDruck an der Wand und das gute Porzellan hinter Glas. „Hier riecht es komisch.“
Frau Hoffmann schluckte. „Danke für das Paket“, sagte sie laut. „Du kannst jetzt wieder gehen.“
„Ich hatte einen Schlaganfall“, meldete sich die Schwiegermutter mit einem Mal.
Frau Hoffmann bezweifelte, dass der Junge irgendetwas mit dieser Information anfangen konnte, doch er drehte sich interessiert um. „So was hatte der Opa von meinem Freund in Bayern auch vor drei Jahren. Da war gerade alles überschwemmt und das Wasser ging bis an die Häuser ran. Es waren zwölf Zentimeter mehr als 1990.“
„War seine rechte Seite auch gelähmt? Ich kann ja nur noch die linke Hand benutzen und auch die nicht besonders gut. Es ist schrecklich.“
„Ich glaube. Der hatte so ein schiefes Gesicht.“Gregor machte es vor.
„Und wie geht es ihm jetzt?“, erkundigte sich die Schwiegermutter gespannt. Sie schien völlig vergessen zu haben, dass sie noch auf dem Teppich saß.
„Nicht gut. Der ist tot. Wegen dem Schlaganfall, logisch.“Gregor wandte sich interessiert einem Foto zu, das auf der Anrichte stand. „Ist das der Frank?“Er deutete auf das Bild, auf dem Frank und Max zu sehen waren, als Zehnjährige in kurzen Hosen, jeder mit einem Eis in der Hand und dem sorglosen Lachen von zwei Kindern an einem sonnigen Ferientag. Ein Bild aus einem anderen Leben. Aus einem anderen Universum.
„Ja, das ist der Frank mit dem Max.“Frau Hoffmann schob ihre Hände unter die Achseln der alten Frau und stellte sich so hin, dass sie sie auf die Couch hochhieven konnte, ohne sich dabei den Rücken auszurenken.
Plötzlich stand Gregor neben ihr. „Der Frank kommt uns bald besuchen.“
„Ach, tatsächlich?“Das waren doch mal interessante Informationen. Dann stimmte es wohl, was Judith Krause immer erzählte? So richtig glaubte ihr Frau Hoffmann nämlich nicht, irgendetwas schien mit Frank passiert zu sein, irgendwas verschwiegen die ihr, aber ihr konnte man nichts vormachen. Wenn der Frank tatsächlich so ein toller Makler und so unendlich reich war, wie seine Mutter immer behauptete, warum kam er dann nie seine Eltern besuchen, hm? Ihr Max hatte leider auch keinen Kontakt mehr zu ihm, obwohl sie ihn schon mehrmals angestachelt hatte, etwas über Frank in Erfahrung zu bringen, im Internet oder so.
„Wann kommt er denn?“Sie ließ die Schwiegermutter einen Moment lang los. Elviras Lebensmut war nach dem niederschmetternden Schicksal von dem unbekannten Opa des Freundes von diesem Gregor auf den Nullpunkt gesunken, sie stierte trübe vor sich hin und ihr linker kleiner Finger berührte das Blatt mit den Laubenfotos, das bei dem Sturz ebenfalls auf den Teppich gesegelt war.
„Soll die Oma da hoch?“, fragte Gregor zurück, und noch ehe Frau Hoffmann ihm antworten konnte, hatte er die Schwiegermutter auf die Couch gewuchtet. Die stieß überrascht einen heiseren kleinen Schrei aus und atmete schnappend.
„Bald kommt der Frank“, fuhr Gregor fort. „Sehr bald. In Australien ist aber jetzt Winter. Da ist das Wetter verkehrt herum.“
„Das erlebe ich sowieso nicht mehr“, ließ sich jetzt Elvira vernehmen, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Ich sterbe bald. Mit mir geht es zu Ende.“
„Wann denn?“, erkundigte Gregor sich interessiert.
„Das weiß man doch nicht, wann man stirbt.“Die Schwiegermutter klang leicht verstimmt.
„Da merkt man komplett gar nichts mehr, wenn man tot ist“, stellte Gregor fest. „Da ist alles weg. Bei einem Koma merkt man auch nichts, obwohl man da noch lebt. Vielleicht fallen Sie auch in ein Koma. Das wäre ja erst mal besser.“
„Ich will aber nicht in ein Koma fallen“, wehrte sich die Schwiegermutter.
„Ist aber besser als sterben.“Gregor griff nach dem strunzhässlichen bunten Plastikfächer, der seit einer Venedigreise vor sieben Jahren ein sinnloses Dasein auf dem Regal fristete, und fächerte sich Luft zu.
Eine Weile lang sagte niemand etwas, dann seufzte Elvira demonstrativ. „Jedenfalls sterbe ich in absehbarer Zeit.“
FORTSETZUNG FOLGT