Merkel geht nicht von Bruch aus
Fronten in Union dramatisch verhärtet
BERLIN/DPA Kanzlerin Angela Merkel rechnet trotz des tiefgehenden Asylstreits mit der Schwesterpartei CSU nicht mit dem Bruch der Bundesregierung. Die Ministerpräsidentenkonferenz habe sie bestärkt, schneller und konzentrierter bei den anstehenden Projekten zu arbeiten, „und ich gehe davon aus, dass wir das auch gemeinsam tun, auch die Bundesregierung“, sagte die CDU-Chefin nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten im Kanzleramt in Berlin. Erneut distanzierte sie sich vom Plan Seehofers für einen nationalen Alleingang bei geplanten Rückweisungen.
Die Auseinandersetzung zwischen der Kanzlerin und ihrem Innenminister scheint endgültig zu eskalieren. Der schwarzroten Regierung droht damt nach kaum 100 Tagen bereits das Aus.
BERLIN Im Bundestag klingeln die Alarmglocken. Dieser 14. Juni ist ein ungewöhnlicher Tag, schnell fällt das Wort historisch. Der schrille Ton ist normalerweise ein Signal, um die Abgeordneten ins Plenum zu rufen. Diesmal – um 11.20 Uhr – eilen sie zu den Aufzügen und fahren in den 3. Stock, auf die Fraktionsebene. Noch nicht einmal 100 Tage regiert diese Koalition, und schon steckt sie in einer schier ausweglosen Krise – wegen der Union.
Die Situation ist an Dramatik kaum zu überbieten: Gleichzeitig treffen sich die CDU- und die CSU-Abgeordneten zu getrennten Sondersitzungen. Die CDU mit Kanzlerin Angela Merkel, die CSU mit Bundesinnenminister Horst Seehofer.
Und dann kommt diese Nachricht aus der CSU-Sitzung: Seehofer droht Merkel mit einem Alleingang. Sollte es keine Einigung über die Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze geben, will der Innenressortchef notfalls per Ministerentscheid handeln – also die Zurückweisung von Flüchtlingen kraft seines Amtes anordnen. Wohl wissend, dass Merkel dies kategorisch ablehnt. Schon am Montag will sich Seehofer dafür den Auftrag des CSU-Parteivorstands holen.
Spätestens jetzt ist klar, dass der Streit zwischen den beiden Schwesterparteien nun endgültig zu eskalieren droht. Ein Alleingang eines Ministers gegen den erklärten Willen der Kanzlerin würde wohl zwangsläufig das Aus für die schwarz-rote Bundesregierung bedeuten.
Erfolglose Krisensitzung
Dass es so weit nicht kommt, darum hatten Merkel und Seehofer am Mittwochabend drei Stunden im Kanzleramt lang gerungen. Mit dabei: die Ministerpräsidenten aus Hessen und Bayern, Volker Bouffier (CDU) und Markus Söder (CSU). Die Stimmung sei „nicht unhöflich, aber bestimmt und ernst“gewesen, heißt es. „Nur selten wurde geschmunzelt.“Um kurz vor Mitternacht geht es nicht mehr weiter. Das GesprächdrehtsichimKreis.
Merkel unterbreitet einen Kompromissvorschlag: Sie will schon beim EU-Gipfel in zwei Wochen bilaterale Verträge mit EU-Partnern erreichen, um die Zurückweisung und Rückführung von Ausländern zu ermöglichen, die in diesen Ländern bereits Asylanträge gestellt haben. Der CSU reicht das nicht.
Am Donnerstag sammeln beide Seiten ihre Truppen: Erst berät das CDU-Präsidium – und stellt sich hinter die Kanzlerin. Man unterstütze Merkels Initiative für bilaterale Vereinbarungen mit EUPartnern, um „unabgestimmte, einseitige Lösungen“zu verhindern. Nur eines bietet die CDU an: dass Personen, deren Asylantrag in Deutschland bereits abgelehnt wurde, bei neuen Einreiseversuchen zurückgewiesen werden.
Aber auch das reicht der CSU noch nicht. Sie will auch die Menschen zurückweisen, die bereits in anderen europäischen Ländern als Asylbewerber registriert sind. „Bei der Zuwanderung dürfen wir keine halbe Sachen mehr machen“, kontert Söder das CDU-Kompromissangebot.
Doch Merkel wirbt auch in der Sondersitzung der CDUAbgeordneten unbeirrt für ihren Kurs, bittet um Vertrauen bis zum EU-Gipfel am 28. und 29. Juni in Brüssel. Von den Abgeordneten habe sie „überwiegend“Unterstützung erhalten, heißt es von Teilnehmern. Man solle ihr die 14 Tage bis zum EU-Gipfel geben.
Spahn „zündelt“
Allerdings: Merkel-Kritiker Jens Spahn wirbt in der Sitzung offen für die CSU-Position – für Zurückweisungen von Flüchtlingen an der deutschen Grenze. „Er zündelt“, berichtet ein CDU-Abgeordneter von drinnen. Die Frage ist nun: Wie lange bekommt Merkel noch Schonfrist? Zwei Wochen, wie die CDU-Fraktion offenbar mehrheitlich will. Oder keine mehr?
Für Merkel sind es existenziell schwierige Tage. Erst düpierte Donald Trump sie mit seiner Twitter-Absage an das Kommuniqué des G7-Gipfels. Keine Woche später steht plötzlich ihre ganze politische Zukunft auf dem Spiel, wegen Seehofer. Sie eint im Streit nur noch das Fehlen von Alternativen – und das dann drohende politische Aus.
Der Machtkampf
Für Merkel geht es beim Asylstreit um einen zentralen Kern ihrer Politik, den sie in den vergangenen Jahren so vehement verteidigt hat. Doch auch für die CSU, für Seehofer, Söder & Co., geht es um die eigene Glaubwürdigkeit. Man könne jetzt keinesfalls mehr nachgeben, heißt es quasi unisono sowohl aus der Landesgruppe im Bundestag als auch aus der CSULandtagsfraktion in Bayern.
Teile des Migrations-Masterplans stünden „in der direkten Verantwortung des Bundesinnenministers“und sollten daher umgesetzt werden, ohne erst auf eine Einigung auf EU-Ebene zu warten, sagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Es sei dringend nötig, bereits in anderen EU-Staaten registrierte Flüchtlinge abzuweisen, „um wieder Ordnung an den Grenzen zu schaffen“. Dieser Schritt sei gedeckt durch deutsches und europäisches Recht. Aus der CDU heißt es die Debatte habe die Fraktion zusammengeschweißt. Über die Wucht des Frontalangriffs auf Merkel herrsche Sprachlosigkeit.
Die CSU fürchtet die Landtagswahl im Oktober, wo ihr der Verlust der absoluten Mehrheit droht. Die große Angst ist, dass ein Nachgeben gegenüber Merkel zum Desaster führen würde – in Umfragen liegen die Christsozialen nur knapp über der 40Prozent-Marke. Die CSU sieht sich unter Zugzwang – auch wegen der AfD, wegen des Bamf-Skandals, wegen mutmaßlich von Asylbewerbern verübter Gewalttaten wie zuletzt an der 14-jährigen Susanna. Man sieht die Bevölkerung hinter sich.
SPD bleibt nur das Hoffen
Paradoxerweise ist der wichtigste Verbündete Merkels aktuell die SPD – die auch keine Zurückweisungen direkt an der Grenze will, für vernünftige Asylverfahren soll es ja die Ankerzentren geben. Einen neuen Wahlkampf will auch bei der SPD keiner. Die AfD sitzt der bis auf 16 Prozent abgerutschten Partei im Nacken. Da regiert man doch lieber und hofft auf ein Wunder.
Man sei mit der Geduld mit Merkel am Ende, heißt es aus der CSU warnend. Weite Teile der Partei scheinen gewillt, um der eigenen Glaubwürdigkeit willen den Koalitionsbruch in Kauf zu nehmen.
Und Merkel? Am Nachmittag verlautet plötzlich, dass sie auch im Falle von Seehofers Alleingang erst einmal bis zum EU-Gipfel ganz normal weitermacht. Eigentlich kaum vorstellbar, denn ihre Autorität wäre extrem beschädigt. Dennoch soll es vorerst keine weiteren Treffen der beiden ungleichen Parteichefs geben.