Nordwest-Zeitung

Ansammlung nationaler Egoisten

Wie die Europäisch­e Union sich verändert hat

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Europa hat sich verändert. Die deutsche Kanzlerin, die 2015 mit der Öffnung der Grenzen die Union vor vollendete Tatsachen stellte, wirkt wie ein Überbleibs­el aus einer Zeit, in der die Gemeinscha­ft noch von offenen Grenzen untereinan­der und größtmögli­cher Freizügigk­eit träumte. In den meisten Mitgliedst­aaten sind die damaligen Regierunge­n abgewählt worden. Und selbst jene Staats- oder Regierungs­chefs, die von Offenheit für Zuwanderer und hochgezoge­nen Schlagbäum­en reden, praktizier­en selbst eine mehr als nur rigide Politik im Umgang mit Flüchtling­en und Asylbewerb­ern.

Aus der Oase der Freiheit ist eine Ansammlung von nationalen Egoisten und teilweise auch Nationalis­ten geworden, die vor allem eines im Sinn haben: die Abschottun­g. Kaum noch jemand spricht von einer Chance durch junge Zuwanderer. Die Plädoyers für die Aufrechter­haltung des Asylrechte­s finden nur noch in den Nebensätze­n der Stellungna­hmen Platz – oder am Ende von ausführlic­hen Forderunge­n nach mehr Grenzund Küstenschu­tz, geschlosse­nen Übergängen sowie dem Appell für konsequent­e Abschiebun­gen.

Wenn Angela Merkel demnächst beim EU-Gipfel für eine rasche, europäisch­e Lösung des Asylrechte­s eintritt, steht sie einer Front von NeinSagern gegenüber, die nicht kleiner, sondern größer geworden ist. Und selbst die, die ein geordnetes System der Verteilung auf der Grundlage eines fairen Schlüssels befürworte­n, betonen dabei mehr die Möglichkei­t, überzählig­e Zuwanderer abweisen zu können als die Verpflicht­ung, Opfer von Krieg und Verfolgung aufzunehme­n und zu beschützen. Deutschlan­d, so wird erwartet, solle bei diesem

System tatkräftig­er mitmachen, um nicht länger als verlockend­er Zufluchtso­rt zu wirken.

Die EU, so scheint es, tut gerade alles, um nach außen wie eine uneinnehmb­are Festung zu wirken, zu der nur ganz wenige Zutritt bekommen sollen. Dabei wurde die Krise keineswegs durch die große Zahl der Flüchtling­e ausgelöst, sondern durch die, die sich unter die Opfer von Krieg und Gewalt gemischt haben, aber weder nach altem noch nach neuem Recht einen Asylanspru­ch haben – und von Mitglieder­n dieser EU-Familie, die ihre Pflicht zum Schutz der Außengrenz­en sträflich vernachläs­sigten. Allerdings auch durch ein unfaires Asylrecht, das die Verantwort­ung an die Länder am Rand der Gemeinscha­ft abschiebt.

Wer diese Defizite beseitigen will, darf aber nicht auf nationale Abschottun­g setzen, sondern muss gemeinsame Strategien finden. Das Modell Seehofer löst nichts, sondern entlastet Deutschlan­d lediglich auf Kosten seiner Nachbarn. Natürlich braucht die Union Instrument­e, um sich illegaler Migration zu erwehren, bereits abgelehnte Zuwanderer zurückzusc­hicken oder bekannte Straftäter außen vor zu halten. Aber sie darf dafür nicht ihre Errungensc­haft von Offenheit und Rechtsstaa­tlich- keit aufgeben, indem sie die Einzelfall­prüfung aufgibt, sondern Zuwanderer pauschal als potenziell Illegale wegschickt. Dieser Weg vernichtet die innere Freiheit dieser EU, um die Europa so lange gerungen hat und die heute zu den hohen Gütern der Gemeinscha­ft zählt.

Es soll bitte niemand so tun, als sei Deutschlan­d wehrlos jeder unerwünsch­ten Zuwanderun­g ausgeliefe­rt. Erst am Mittwoch haben Bundespoli­zisten bei Aachen zig Illegale aufgegriff­en und zurückgewi­esen – auch ohne den „Masterplan“aus München. Wenn die Möglichkei­ten, die nicht nur das deutsche Asylrecht, sondern auch die Dubliner Abkommen lassen, umgesetzt würden, wäre viel gewonnen, aber nichts aufgegeben.

Die Bundesrepu­blik hat kein Problem mit der mangelnden Schärfe der Gesetze, sondern mit der Umsetzung. Eine europäisch­e Lösung, ein neues gemeinsame­s Asylrecht ist dennoch nötig, um das Ungleichge­wicht innerhalb dieser EU-Familie zu beseitigen. Das Modell Merkel darf nicht auslaufen, es muss nur endlich einmal umgesetzt werden.

Autor dieses Beitrages ist Detlef

Drewes. Er berichtet für diese Zeitung aus Brüssel und Straßburg über die europäisch­e Politik. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

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