Nordwest-Zeitung

„Wiederwahl des Präsidente­n ist kein Selbstläuf­er“

Experte sieht keinen fairen Wahlkampf – Zersplitte­rte Opposition bildet Wahlbündni­s

- VON MIRJAM SCHMITT

FRAGE: Zm Sonntag sind Wahlen in der Türkei. Am 15. Juli jährt sich der Putschvers­uch zum zweiten Mal. Geht Präsident Recep Tayyip Erdogan aus den zwei Jahren nach dem Putschvers­uch geschwächt oder gestärkt hervor? SEUFERT: Wir hatten nach dem Putschvers­uch eine sehr große Solidarisi­erung mit der Regierung. Die Zustimmung­swerte für die AKP und Herrn Erdogan lagen bei 60 Prozent. Im Laufe der letzten zwei Jahre war eine gewisse Ermüdungsu­nd Abnutzungs­erscheinun­g zu sehen, so dass heute ein Wahlsieg von Erdogan keineswegs sicher ist. FRAGE: Die Türkei ist auch seit fast zwei Jahren im Ausnahmezu­stand.

Ist ein Wahlkampf möglich? SEUFERT: Einen fairen Wahlkampf gab es ja schon 2017 nicht, als das Referendum zur Einführung des Präsidials­ystems abgehalten wurde. Das hat die Parlamenta­rische Versammlun­g des Europarats festgestel­lt. Betrachtet man fairer

die Sendepolit­ik des staatliche­n Fernsehens, die erdrückend­e Übermacht der Regierung bei den privaten Medien und die Bereitscha­ft der Justiz zu politische­n Prozessen, kann von einem fairen Wahlkampf nicht die Rede sein. FRAGE: Die türkische Regierung macht die Gülen-Bewe- gung für den Putschvers­uch verantwort­lich. Die Opposition geht von einer Allianz zwischen Gülen-Anhängern und anderen Erdogan-Gegnern aus. Wei0 man mehr? SEUFERT: Man weiß noch immer nur wenig. Man kann sagen, dass die türkische Regierung selbst kein Interesse daran hat, dass alles aufgeklärt wird. Es sieht ganz danach aus, als hätten Militärs, die über das Netzwerk der GülenBeweg­ung zusammenge­kommen sind, im Zentrum des Putsches gestanden. Daneben gab es kemalistis­che Offiziere und Offiziere, die mit der Kurdenpoli­tik der Regierung unzufriede­n waren. FRAGE: Wie hoch ist die 1hance auf eine Wiederwahl Erdogans? SEUFERT: Im Augenblick scheint es, als wäre das Rennen offen. Und allein das ist nach 16 Jahren AKP-Herrschaft, in denen die Partei neun Urnengänge mit deutlicher Mehrheit gewonnen hat, eine kleine Revolution. FRAGE: Was sind die Gründe? SEUFERT: Der Umstand, dass wir zum ersten Mal ein Wahlbündni­s der zersplitte­rten Opposition haben, die so etwas wie einen gemeinsame­n Diskurs entwickelt: Nein zur Ein-Personen-Herrschaft, zur Fortdauer des Ausnahmezu­standes, zur Wirtschaft­spolitik der galoppiere­nden Inflation, zur Außenpolit­ik in Syrien. Das sind Dinge, auf die sich fromme Konservati­ve, säkulare Leute, Liberale und Nationalis­ten einigen können.

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