DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS
ROMAN VON ULRIKE HERWIG Copyright © 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
30N FORTSETZUNG
Obwohl – eigentlich war Frau Dürer dankbar, dass dieser Fitnesswahn in ihrer Jugend noch nicht jedem das Hirn verblödet hatte. Damals konnte man noch in aller Ruhe den Sonntag verschlafen und kräftig rauchen und dazu ganz normalen Kaffee trinken, ohne vorher mit laut zischenden Dampfmaschinen aus Edelstahl herumzufuhrwerken und Milch aufzuschäumen.
Sie seufzte, schob die schweren Schenkel hin und her, um sich auf der Couch neu zurechtzurücken, griff nach ihrer Gabel und stocherte in dem Fertiggericht herum, das in der Mikrowelle jegliche Ähnlichkeit mit dem appetitlichen Abbild auf der Packung verloren hatte und dessen undefinierbares Stück Fleisch sich wie ein schrumpeliger ausgeglühter Planet in der Plastikschale krümmte. Was aß sie hier eigentlich? Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern. Aber das war auch völlig egal. Um selber zu kochen, hätte sie die ganzen Zutaten kaufen und stundenlang in der Küche stehen müssen, und das Ganze nur für eine Person, das war den Aufwand einfach nicht wert. Ja, wenn sie verheiratet wäre … Wenn Ecki noch bei ihr wäre, dann sähe die Sache natürlich anders aus. Wahrscheinlich sähe sie selbst dann auch völlig anders aus, aber diesen Gedanken erstickte sie gleich wieder im Keim. Der schwarze Bildschirm des Fernsehers lieferte ihr trotzdem ungefragt ihr Spiegelbild, auch wenn es verzerrt und undeutlich war. An welchem Punkt in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren hatten sich eigentlich diese Hamsterbäckchen so häuslich in ihrem Gesicht eingenistet? Wann hatte sich das Doppelkinn heimtückisch herangeschlichen, wann diese komischen Furchen zu beiden Seiten der Nase? Ab wann hatte alles, was sie anzog, furchtbar ausgesehen und ab wann hatte sie es vermieden, sich nackt im Spiegel anzuschauen? Sie wusste es nicht.
Doch, natürlich wusste sie es. Seit Ecki sie abserviert hatte und seit dem nachfolgenden abrupten Ende ihrer KarMittagessen riere. Seit sie seinen Heiratsantrag belächelt und abgelehnt hatte, um sich dann später anders zu besinnen, das heißt, genau genommen nach einem Jahr, als es um sie herum immer trostloser wurde, die Band auseinanderging und plötzlich neue Sternchen am Musikhimmel strahlten. Da wollte man sie nicht mal mehr als Solosängerin buchen und eine besonders fiese Klatschzeitung bezeichnete sie als „C-Promi, der die Zeichen der Zeit nicht erkennt“.
Ecki und sie gehörten einfach zusammen, schon seit dem ersten spontanen Song zu zweit im Mephisto, diesem kleinen Klub, den es mittlerweile nicht mehr gab. Sie hatten zueinandergefunden wie zwei Brieftauben auf dem Weg nach Hause, sie waren unzertrennlich und hatten zusammen Musikgeschichte geschrieben, verdammt noch mal. Natürlich waren sie auch privat ein Paar gewesen – nur eben nicht ständig.
Und deshalb war es nicht fair, dass Ecki, als sie ihn schließlich doch heiraten wollte, ihr nur mitteilte, er sei inzwischen mit jemand anderem liiert. Das war gegen alle Spielregeln, und er wusste es, denn allen Naturgesetzen nach hätten sie beide auf die ein oder andere Weise für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben müssen. Es war ein Schlag ins Gesicht. Ecki und eine andere. Angeblich was Ernstes. Eine fremde Frau, die ihm wichtig genug war, dass er Claudia, die Seelenverwandte und Liebe seines Lebens, dafür einfach fallen ließ.
Nach all den Jahren bohrte der Schmerz immer noch in ihr wie ein entzündeter Zahn und konnte nur mit Wein betäubt werden. Das Glas war leider schon leer, aber zum waren ja zwei Gläser erlaubt, das machten die Geschäftsleute schließlich auch nicht anders. Sie goss sich erneut ein und schaltete den Fernseher an. Richter Alexander Hold, die Küchenschlacht, die ShoppingQueen. Ein Scheiß nach dem anderen. Da guckte sie sich doch lieber noch mal ihre Konzert-Mitschnitte von 1994 an. Ächzend wuchtete sie sich hoch, zog dabei aus Versehen den Ärmel durch die hellbraune Soße ihres kümmerlichen Essens, schlurfte zu dem Stapel DVDs in der Ecke, die sie von den alten Videokassetten hatte aufnehmen lassen, und legte ihren Favoriten ein. Das und noch ein Schluck Wein, und schon tauchte sie ab in die Vergangenheit. Damals sah sie umwerfend aus, tausend Menschen jubelten ihr zu, sangen mit, wollten mehr – wollten sie. Die Kamera hatte auch ein paar Mal eingefangen, wie sie mit Ecki Blicke tauschte, wie sie sich wortlos verstanden, wie sie den Saal rockten, wie …
Es klingelte. Erst nahm sie es gar nicht richtig wahr, doch wer immer da an der Tür war, klingelte hartnäckig und immer hartnäckiger. Verwirrt hielt sie die DVD an. Wer war das? Es kam doch nie jemand zu ihr. Wahrscheinlich der Briefträger, dieser Vollidiot, der irgendwie spitzgekriegt hatte, dass sie immer zu Hause war, und seitdem sämtliche Pakete bei ihr abzuladen versuchte. Vergiss es, Schätzchen. Sie lauschte, ob diese Nervensäge endlich wegging, aber er klingelte stur weiter. Ärgerlich schraubte sie sich hoch und stapfte zur Tür. Durch das kleine Guckloch konnte sie sehen, wer draußen stand. Es war Gregor von den Krauses, dieser arme verrückte Junge. Ach Gottchen. Sie öffnete die Tür.
„Na, du?“, begrüßte sie ihn. „Was gibt’s?“
„Sie haben gesagt, ich soll mal zu Ihnen kommen“, erwiderte Gregor.
Ach ja, das hatte sie. Wie man so was eben so dahinsagte, man rechnete ja nicht damit, dass tatsächlich jemand vorbeikam. Aber nun stand der hier vor ihrer Tür. FORTSETZUNG FOLGT