Kopflose Kompromisssuche
Die Strategie in der EU-Asylpolitik ist die Abwesenheit jeder Strategie
Geht es um Einwanderung, ist heute kein Land mehr völlig souverän. Die Vereinten Nationen bereiten da etwa einen „Globalen Vertrag über sichere, geordnete und regelgerechte Migration“vor. Die europäischen Staaten müssen in dieser Frage – soweit sie Mitglieder sind – im Rahmen der Europäischen Union handeln. Dazu haben sie sich vertraglich verpflichtet, und die angestrebte „immer engere Union“macht das zwingend, soll das Projekt gelingen.
Allerdings ist der Wunsch nach gemeinsamer Politik gefangen in einem Dickicht aus nationalen Interessen, Zuständigkeiten und Institutionen. Das Bild ist heute geprägt von wenig Kooperation aber jeder Menge Konfrontation.
Das Konstrukt „Europäische Union“ist im Moment nicht in der Lage, eine konsistente Strategie in der Asylfrage zu entwickeln. Es reagiert auf unmittelbare Entwicklungen. Wo strategisch gearbeitet wird, wie etwa im Europäischen Parlament (EP), ist die Strategie einwandererzentriert und läuft auf möglichst offene Grenzen hinaus. Das Management dieser Einwanderung wird als technokratisches Problem betrachtet, Belange der autochthonen Bevölkerung sind Nebenaspekte.
Das zeigt sich insbesondere bei der Reform der DublinRegeln, die im Zentrum aller Konflikte steht. Sie ist eine Angelegenheit des EP, der Europäischen Kommission, des Rates und letztlich der politischen Willensbildung in den Nationalstaaten. Das Ultimatum der CSU an die Kanzlerin hat die Prozesse nun beschleunigt und in eine andere Richtung gelenkt.
Eigentlich sollte beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 28. Juni ein Vorschlag des EP und der Kommission behandelt werden. Und dieses Papier hatte es in mehrfacher Hinsicht in sich. Obwohl das Wort „Quote“nicht vorkommt, läuft es letztlich auf eine Verteilung der Asylbewerber nach Quoten auf die einzelnen EUStaaten hinaus, die mit logistischen und finanziellen Hilfen versüßt werden soll. Ein Viertel dieser Leute kann jedes Land durch Zahlungen an die EU abwenden. Für Asylbewerber soll zudem nicht mehr automatisch das Land der Ankunft zuständig sein, wie es bisher im Dublin-System vorment
gesehen ist. Der Vorschlag enthält einen „automatisierten Umsiedlungsmechanismus“, heißt es im Bericht des EP-Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Das heißt: Antragsteller, die in einem Mitgliedstaat Familie oder auch nur unspezifische „Bindungen“haben, sollen dorthin gebracht werden. Sollten Mitgliedstaaten sich weigern mitzutun, werden EU-Mittel gestrichen.
Beide Punkte sind Sprengstoff. Quoten haben Länder wie Österreich und Ungarn bereits abgelehnt. Auf Deutschland aber würden extreme Belastungen zukommen. Die zwei Millionen Asylbewerber, die seit 2015 ins Land kamen, würden in diesem System wie ein Katalysator für neue Einwanderungswellen wirken. In den Hauptherkunftsländern sind Familienbeziehungen
weit verzweigt, sodass plötzlich Millionen das Recht hätten, nach Deutschland zu kommen. SPD, Linke und Grüne haben im Ausschuss zudem einen sehr weit gefassten Familienbegriff beschlossen, der auch erwachsene und verheiratete Geschwister einschließt. Der Vorschlag des Europäischen Parlamentes ginge also zu Lasten Deutschlands, Österreichs und Nordeuropas.
Angesichts der jüngsten Entwicklungen und des zunehmenden Widerstandes gegen Masseneinwanderung in ganz Europa dürften diese Ideen aus dem Januar allerdings beim Gipfel am 28. Juni weitgehend chancenlos sein.
Ratspräsident Donald Tusk legte daher in elfter Stunde einige Vorschläge auf den Tisch, die deutlich restriktiver daherkamen. Unter anderem sollen Einwanderer, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen wurden, in von der EU kontrollierten Asylzentren außerhalb Europas gesammelt werden. Für den Krisen-Gipfel, den Angela Merkel am Sonntag in aller Eile zusammengerufen hat, hatte auch EUKommissionspräsident Jean Claude Juncker ein Ad-HocPapier vorgelegt, das deutlich schärfer formuliert war und offensichtlich eine Reaktion auf die Entwicklungen in Deutschland und Italien darstellte. Da war die Rede von einem „gemeinsamen Rücknahmemechanismus“für Asylbewerber, die ihren Antrag eigentlich in einem anderen Land hätten stellen müssen. Zudem waren Strafen für diejenigen vorgesehen, die nicht im Land der Erstregistrierung bleiben sowie die Angleichung der Sozialhilfe und Ankerzentren, letztere allerdings innerhalb der EU.
Doch dieses Papier ist bereits vom Tisch, bevor es überhaupt darauf zu liegen kam. Italiens Regierungschef Giuseppe Conte lehnte eine schriftliche Festlegung noch vor dem Treffen am Sonntag ab. Die italienische Regierung kritisierte außerdem den Inhalt des Papiers. Vor allem die Rücknahmeverpflichtung wird kritisch gesehen. Conte hatte zuvor erklärt, er werde nicht über Asylströme innerhalb Europas diskutieren, bevor nicht das Problem Einwanderung über die Außengrenzen der EU hinweg geklärt sei. Ein Abschlussdoku- des Not-Gipfels wird es nicht geben.
Die kleinen aber wichtigen mittelosteuropäischen Länder boykottieren den MiniGipfel nämlich, und sie haben andere Vorstellungen, wie ein Asylsystem aussehen sollte. In dieser Woche trafen sich die Regierungschefs Ungarns, Polens, der Slowakei und Tschechiens in Budapest. Grundtenor: Es muss um den Schutz der Außengrenzen gehen – nicht um die Verteilung von Einwanderern im Inneren. Die Regierungschefs fordern Auffangzentren außerhalb der EU und die Erweiterung des Mandates der EUGrenzschutzagentur Frontex auf Drittstaaten.
Die Visegrad-Gruppe will also das Problem vor allem mit Grenzschutz lösen und die Zahl der Einwanderer insgesamt möglichst niedrig halten. Dazu würde auch eine Strategie beitragen, die aus Österreich kommt. Dort entstanden in den vergangenen Monaten Pläne für Abschiebezentren auf dem Balkan. Flankiert werden soll dies mit einer Öffentlichkeits-Kampagne in den Herkunftsländern Afrikas und Vorderasiens, mit der Botschaft: „Es ist nicht attraktiv nach Europa zu kommen, man landet mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem unschönen Abschiebezentrum.“
Auf der europäischen Ebene erleben wir also eine mühsame, struktur- und kopflose Kompromisssuche. Der darunterliegende Konflikt ist die Frage, ob millionenfache Asylgewährung in der EU erwünscht ist oder nicht, ob es um Reduzierung oder nur Lenkung gehen soll. Jegliche Lösung dürfte am Ende zu Lasten Deutschlands gehen, entweder durch neue Aufnahmen oder Zahlungen.
Letztlich werden sich die nationalen Regierungen und die EU-Institutionen aber einem Urteil stellen müssen – dem der Menschen, die „schon länger hier leben“. Dabei zählt nur ein Kriterium, das jedoch objektiv messbar ist: Gelingt es, die massive Armutseinwanderung unter dem Mantel des Asylrechts entscheidend zu reduzieren?
Diese Frage ist die eine Schicksalsfrage nicht nur für europäische Regierungen in dieser oder jener Zusammensetzung, sondern für die Existenz der EU und die politische Stabilität des Kontinents.