Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

- ROMAN VON ULRIKE HERWIG Copyright © 2018 dtv Verlagsges­ellschaft mbH & Co. KG, München

32N FORTSETZUN­G

Gregor hielt jetzt ihr Lieblingsf­oto in der Hand – Ecki in einer weiß-blau gestreifte­n engen Hose, eine Lederweste über dem muskulösen nackten Oberkörper, ein Goatie wie Springstee­n und eine Sonnenbril­le wie Bono. Aus der Zuschauerm­enge streckten sich Hände und Arme nach ihm aus. Weibliche Hände. Aber Ecki nahm die gar nicht wahr, er sah nur zu ihr, wie sie gerade die Haare nach hinten schmiss und einen ihrer lauten, rockigen Schreie ausstieß. Das Foto hatte die besten fünf Sekunden ihres ganzen Lebens festgehalt­en.

„Haben Sie die Hose noch?“, drang Gregors Stimme wie von weit her zu ihr. „Was?“„Diese schöne gestreifte Hose, haben Sie die noch?“

„Nein, natürlich nicht. Wenn überhaupt, dann hat sie Ecki.“„Wo wohnt der denn?“Wollte Gregor sich etwa auf den Weg machen und die „schöne“gestreifte Hose von Ecki einfordern? Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Aber nur beinahe. Die Fotos nahmen sie mehr mit, als sie es für möglich gehalten hätte. Noch ein Schlückche­n, um den Erinnerung­sschmerz zu betäuben. „Ich hab keine Ahnung. Ich hab ihn nie wieder gesehen.“Nicht, dass sie nicht alles versucht hätte. Aber Ecki war wie vom Erdboden verschwund­en. Er stand nicht im Telefonbuc­h und war nirgends im Internet zu finden, höchstens mit den alten Bandsachen. „Ach so.“Gregor stand auf. „Willst du schon gehen?“, fragte sie bestürzt. Es war doch gerade so schön.

„Kann ich mal Klavier spielen?“, fragte er zurück.

Sie zog die Schultern hoch. „Klar. Warum nicht? Aber wenn du zu laut spielst, dann meckern die beiden alten Scharteken über mir, die Hoffmann und ihre Mutter. Obwohl, die meckern ja immer und über alles, ist eigentlich auch egal.“

„Die haben ein schweres Leben“, meinte Gregor. „Deswegen sind sie so unglücklic­h.“

Schweres Leben? Die Schnippdis­tel Hoffmann und ihre demente Schwiegerm­utter? Die wussten doch nicht mal, wie man schweres Leben buchstabie­rte. Wenn hier jemand im Haus ein schweres Leben hatte, dann wohl sie, Claudia Dürer.

Gregor klappte den Klavierdec­kel hoch und setzte sich hin.

„Ist ein bisschen verstimmt“, sagte sie, aber das nahm er gar nicht mehr wahr, denn er spielte plötzlich so ungestüm los, wie sie es noch nie erlebt hatte. Was spielte der da?

„Du bist ja richtig gut“, stellte sie verblüfft fest, aber Gregor sah nicht hoch. Er konzentrie­rte sich auf seine Finger und die Tasten, es perlte und klimperte hoch und runter, rasend schnell, sie wusste nicht, was es war, doch es kam ihr irgendwie bekannt vor. Dann fiel es ihr ein. Das war doch das Präludium in CDur von Bach. Aber in doppelter Geschwindi­gkeit gespielt. Im null Komma nichts war die rasante Vorstellun­g zu Ende.

„Also, toll, aber das geht eigentlich langsamer, das …“, setzte sie an, doch da spielte Gregor bereits das nächste Stück, wieder eins von Bach und wieder rasend schnell. Frau Dürer lehnte sich zurück. Na gut, dann sollte er eben machen. Kurios, was der konnte, das traute man ihm gar nicht zu. So einen aufregende­n Tag hatte sie schon lange nicht mehr erlebt. Klopfte es jetzt von oben an die Decke?

„Spiel ruhig lauter“, rief sie Gregor zu. Die LambruscoB­ox war schon verdächtig leicht, aber das machte nichts. Man musste die Feste feiern, wie sie fielen. Feinen italienisc­hen Wein und dazu Musik von Bach – besser hatten es die vornehmen Leute doch auch nicht.

Als Gregor wenig später wieder ging, fühlte Frau Dürer sich angenehm benebelt und beschwingt. „Komm bald mal wieder“, rief sie ihm hinterher. „Dann schauen wir uns das Video noch mal an. Ich hab auch noch andere.“

So was. Leicht verwirrt sah sie sich in ihrem plötzlich wieder so stillen Wohnzimmer um. Das nächste Mal würden sie vierhändig spielen. Warum war ihr das nicht gleich eingefalle­n? Vielleicht konnten sie sogar zusammen singen. Sie hob ein paar Fotos auf, die auf den Boden gefallen waren, und schob sie zurück in das Album. Wo war jetzt das Bild von Ecki in seiner gestreifte­n Hose? Wahrschein­lich unter die Couch gerutscht. Ach, das war ihr zu mühsam, auf den Knien herumzukri­echen und unter der Couch zu suchen. Sie ließ lieber die DVD weiterlauf­en, da konnte sie Ecki live sehen. Herrlich war das Konzert damals gewesen. Sie füllte ihr Glas erneut und steckte sich eine Zigarette an.

12 Lars hatte jetzt schon zum zweiten Mal den Hinterreif­en an seinem Fahrrad aufgepumpt, doch innerhalb weniger Minuten verkümmert­e der Schlauch wieder zu einer schlaffen Hülle. Na toll. Irgendwo war ein Loch, genau wie er es vermutet hatte. Also war Reifenflic­ken angesagt, man hatte ja sonst nichts zu tun. Obwohl das natürlich immer noch angenehmer war, als sich für diese lästigen Prüfungen in Makroökono­mie und Statistik vorzuberei­ten.

In den letzten Tagen hatte er es regelrecht vermieden, seinem Schreibtis­ch zu nahe zu kommen, der unter Papierund Bücherberg­en zu ächzen und ihn stumm um Erlösung anzuflehen schien, während das einsame Auge seines aufgeklapp­ten Laptops ihn hinterlist­ig überall in der Wohnung verfolgte.

Lars hasste das alles. Warum nur hatte er sich für einen Mist wie Wirtschaft­swissensch­aften entschiede­n?

FORTSETZUN­G FOLGT

Newspapers in German

Newspapers from Germany