Nordwest-Zeitung

Worüber man nicht mehr spricht

Viele Bürger in Bad Kleinen verdrängen die misslungen­e Polizeiakt­ion

- VON MAREK MAJEWSKY

Der 27. Juni 1993, Bad Kleinen, ein Provinzbah­nhof zwischen Schwerin und Wismar: Die Spezialein­heit GSG 9 stürmt in eine Tunnelunte­rführung. Die Elite-Polizisten sollen auf dem Bahnhof die mutmaßlich­en RAF-Terroriste­n Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams festnehmen. Doch die Aktion geht komplett daneben und liefert Stoff für Verschwöru­ngstheorie­n. Es kommt zum Tumult, Schüsse fallen, am Ende sind zwei Menschen tot: Grams und der GSG-9-Beamte Michael Newrzella.

Der damalige Bürgermeis­ter des 3500-Seelen-Orts, Hans Kreher, war ganz in der Nähe, als die Schüsse fielen, wie er erzählt. „Das hörte sich an wie Maschineng­ewehrfeuer“, erinnert er sich. Kurz darauf seien Hubschraub­er gekommen. Als er sich ein Bild der Lage machen wollte, sei am Bahnhof bereits alles abgesperrt gewesen.

Die Ereignisse vor 25 Jahren katapultie­rten den mecklenbur­gischen Ort in die Schlagzeil­en, erschütter­ten das Vertrauen der Bevölkerun­g in den Rechtsstaa­t und stürzten die damalige Bundesregi­erung und die Sicherheit­sbehörden in eine Krise.

Nach und nach kam ans Licht, was alles schief gelaufen war. Die Polizei hatte mit

rund 100 Beamten Stellung bezogen. Zwar gelang es ihnen, Hogefeld zu überwältig­en. Doch der ebenfalls gesuchte RAF-Terrorist Grams floh. Er stürmte aus einer Unterführu­ng auf den Bahnsteig, eröffnete das Feuer, traf den Ermittlung­sakten zufolge den Polizisten Newrzella und wurde schließlic­h selbst von mehreren Kugeln niedergest­reckt. Tödlich war ein Kopfschuss, den sich der damals 40-jährige Grams selbst gesetzt haben soll.

„Jetzt kommen die aus dem Westen und laden ihre Probleme auf uns ab“, sei der Tenor gewesen, der damals

herrschte, sagt Kreher. Heute werde innerhalb des Ortes kaum noch darüber gesprochen.

„Davon weiß ich nichts, ich bin zugezogen“, sagt auch Brigitte Wramp. Seit zehn Jahren lebe sie hier. Ja, von dem Einsatz gehört habe sie natürlich, aber Thema sei das nicht mehr. Der amtierende Bürgermeis­ter will gar nicht dar übersprech­en. Ihn ärgere, dass Bad Kleinen in Deutschlan­d nur mit diesem Tag in Verbindung gebracht werde, erzählt er kurz am Telefon.

Während und nach dem Einsatz kam es den späteren Untersuchu­ngen zufolge zu mehreren Pannen: Die GSG 9 trug keine schusssich­eren Westen, die Kommunikat­ion untereinan­der war unzureiche­nd, ein Notarzt nicht vor Ort. Zudem soll die Leiche von Grams vor der Sicherung von Schmauchsp­uren gewaschen worden sein. Reisende fanden Tage später am Bahnhof Geschosste­ile. Hinzu kam eine chaotische Informatio­nspolitik in den Tagen nach dem Einsatz.

Damalige Medienberi­chte befeuerten die Verschwöru­ngstheorie­n. So tauchten Zeugenauss­agen auf, wonach ein Polizist dem schwer verletzten Grams die Waffe abgenommen und ihn dann mit einem gezielten Kopfschuss umgebracht haben soll. Eine Exekution durch staatliche Hand? Dieser These glaubte Kreher damals schon nicht, weil er eine Zeugin nach eigener Aussage kannte. Einige Zeit seien sie Nachbarn gewesen. „Sie lag ängstlich in ihrem Kiosk und hatte sich alles mögliche zusammenfa­ntasiert“, ist sich Kreher sicher.

Der damalige Generalbun­desanwalt Alexander von Stahl überstand die Krise nicht und musste seinen Posten räumen. Bundesinne­nminister Rudolf Seiters trat dagegen aus eigenen Stücken ab: Wenige Tage nach der Schießerei erklärte der CDUMann überrasche­nd seinen Rückzug.

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BILD: MAREK MAJEWSKY Bad Kleinens ehemaliger Bürgermeis­ter Hans Kreher ist einer der Zeitzeugen.

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