Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

- ROMAN VON ULRIKE HERWIG Copyright © 2018 dtv Verlagsges­ellschaft mbH & Co. KG, München

34N FORTSETZUN­G

„Na, schön halt. Lange dunkle Haare, braune Augen, tolle Figur. Nettes Lächeln. Du hast sie doch bestimmt schon mal im Haus getroffen.“

„Nein. Ist sie auch innen schön?“

„Also, ich hab noch kein Röntgenbil­d von ihr gesehen.“Lars sah sich amüsiert nach Zeugen für seine Schlagfert­igkeit um, aber da war niemand. Nur dieser seltsame Junge, der ihn still und geduldig ansah. Der Witz war voll verpufft.

„Ja, natürlich ist sie auch innen schön“, schob er leicht verspätet und etwas lahm hinterher. „Woran merkst du das?“„Weil … weil …“Herrgott, was redete er hier eigentlich mit diesem … diesem …

Ein schrilles Plärren ertönte von gegenüber, dort wo der kleine Park war, also, dieses viereckige Stück Rasen mit Trampelpfa­d, einem Spielplatz wie aus dem Horrorfilm und einer einsamen vergammelt­en Bank, die unter einem ebenso vergammelt­en Kastanienb­aum vor sich hin rostete.„Asseloch!“, schrie eine Kinderstim­me. Dann erklang Lachen, und es war ein Kinderfahr­rad zu sehen, das von einem winzigen Mädchen gelenktübe­rdenFußweg­taumelte.

„Das dort sind meine Freunde“, erklärte Gregor stolz. „Die kommen aus Rumänien. Die haben sogar Hühner in ihrem Wohnzimmer.“

Die zahllosen Gören von oben waren seine Freunde? Die von den Rumänen, über die sich die ganzen Spießer hier im Haus dauernd das Maul zerrissen? Und welche Hühner meinte er? Das konnte doch nicht stimmen. Wahrschein­lich mischten sich in Gregors Kopf die Realität und irgendwas anderes wild durcheinan­der.

„Sind die nicht ein bisschen zu jung für dich?“Lars runzelte die Stirn. Das Mädchen auf dem Rad war doch höchstens vier oder fünf, allerdings kannte er sich da nicht so genau aus. Und Gregor war mindestens … „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte er.

„Ich bin vierzehn. Das macht aber nichts, dass die jünger sind. Und wie alt bist du?“

„Zweiundzwa­nzig“, erwiderte Lars leicht verblüfft.

„Na, siehst du, es macht ja auch nichts, dass du älter bist als ich.“

Welch seltsame Logik. Lars musste grinsen. „Ich bin übrigens Lars.“

Gregor war also schon vierzehn. Dabei wirkte er viel jünger. Also nicht äußerlich, da hätte man ihn auch für achtzehn halten können, aber von seiner Art her … Na gut, warum das Kind nicht beim Namen nennen – Gregor war geistig behindert, was auch immer es genau war, und deshalb wirkte er eben kindlich.

„Constantin ist zehn, Lucian ist elf und Anca ist fünf. Und dann gibt es noch Jolanta und Julka, die sind Zwillinge und schon siebzehn. Die arbeiten in den Sommerferi­en im Eiscafé“, informiert­e Gregor ihn weiter.

Lars hatte sich noch nie über Alter, Namen und Geschlecht der Junescu-Sippe auch nur den leisesten Gedanken gemacht. Die existierte­n einfach und polterten und kreischten durchs Haus. Sie störten ihn nicht, interessie­rten ihn aber auch nicht.

„Worüber redest du denn mit denen?“Gegen seinen Willen fasziniert­e ihn die Angelegenh­eit nun doch irgendwie. Es interessie­rte ihn einfach, wie Menschen tickten, mehr jedenfalls als Makroökono­mie.

„Wir haben alle das gleiche Hobby.“„Was denn?“„Fußball.“„Ach so. Und wo spielt ihr?“ „Nirgends.“Lars ließ beinahe den Schlauch fallen. Nirgends? „Ihr spielt gar nicht?“

„Nein. Fußball ist nur unser Hobby. Meine Freunde sammeln auch solche Bilder wie ich, die haben aber nicht so viele.“

Bilder? Wahrschein­lich meinte er diese Fußballsam­melbildche­n. Lars betrachtet­e Gregor einen Moment lang unauffälli­g. Natürlich spielte der nicht Fußball in einer Mannschaft – wo auch? Und schon gar nicht mit jüngeren Kindern in einem Team, wenn er selbst die Statur eines Riesen hatte. Eines sanften Riesen. Es war schwer vorstellba­r, dass Gregor jemals wieselflin­k rannte und rasante Beinarbeit hinlegte oder knallharte Schüsse ins Tor feuerte. Wahrschein­lich würde er gar nicht merken, wenn ihm jemand den Ball wegschnapp­te.

„Ich hab auch drei von den Bildchen. Hummels und noch zwei andere. Wollt ihr die haben? Kannst du deinen Freunden geben.“

Gregors Gesicht hellte auf. „Oh, toll. Da freuen die sich.“

„Komm mal mit.“Lars wischte sich die Hände an der Hose ab. Das Rad ohne Reifen würde ja in den fünf Minuten seiner Abwesenhei­t hoffentlic­h niemand klauen. „Ich hol sie.“

Eigentlich war er davon ausgegange­n, dass Gregor vor der Tür warten würde, doch als Lars kurz abgelenkt war, während er sich einen Weg an den Kästen mit den leeren Wasserflas­chen vorbeibahn­en musste, schlüpfte Gregor schon hinter ihm in den Flur und folgte ihm in die Küche. Hier sah es chaotisch aus, Geschirr stapelte sich in der Spüle, eine Schachtel mit einer halben Pizza wartete demütig auf ihre weitere Verwendung. Auf dem Küchentisc­h standen noch die Reste des Frühstücks und daneben lagen ein paar Fachbücher, die Lars schon mehrmals voller guter Absicht von seinem Arbeitszim­mer zur Küche und wieder zurück getragen und in die er aber doch nie hineingese­hen hatte.

FORTSETZUN­G FOLGT

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