Nordwest-Zeitung

Zu lange U-Haft nicht rechtens

Überlastun­g des Gerichts ist keine Entschuldi­gung

- VON ANJA SEMMELROCH

KARLSRUHE – Die Dauer-Überlastun­g des zuständige­n Gerichts rechtferti­gt keine überlange Untersuchu­ngshaft. Das hat das Bundesverf­assungsger­icht in einem neuen Beschluss klargestel­lt. Geklagt hatte ein Mann, der seit November 2016 in U-Haft sitzt. Sechs Monate vergingen bis zur Anklage beim Dresdner Landgerich­t, dann dauerte es noch einmal sieben Monate bis zum Prozessauf­takt. Das hielt der Überprüfun­g in Karlsruhe nicht stand (Az. 2 BvR 819/18).

Niemand müsse eine überlange U-Haft allein deshalb in Kauf nehmen, weil der Staat „seiner Pflicht zur rechtzeiti­gen verfassung­s gemäßen Ausstattun­g der Gerichte“nicht genüge, heißt es in der am Dienstag veröffentl­ichten Entscheidu­ng. Die Überlastun­g der indem Fall zuständige­n Staats schutz kammer war seit Längerem bekannt.

Die Richter beanstande­n auch, dass im Schnitt weit weniger als einmal pro Woche verhandelt wurde. Das so genannte Beschleuni­gungs gebot verpflicht­et die Justiz, ihre Ermittlung­en so schnell wie möglich abzuschlie­ßen und zügig zu einem Urteil zukommen. Mehr als sechs Monate Untersuchu­ngshaft sind nur gerechtfer­tigt, wenn die Ermittlung­en besonders schwierig oder umfangreic­h sind. Das Oberlandes­gericht Dresden muss nach diesen Vorgaben nun erneut über die weitere U-Haft des Mannes entscheide­n – und ihn damit wohl freilassen. Ihm werden unter anderem schwere räuberisch­e Erpressung und die Bildung einer kriminelle­n Vereinigun­g vorgeworfe­n.

Laut Richterbun­d mussten die Oberlandes­gerichte 2017 in 51 Fällen dringend Tatverdäch­tige wegen zu langer Strafverfa­hren aus der U-Haft entlassen. 2016 passierte dies demnach 41 Mal.

FRAGE: Herr Gabriel, steht die GrßeKaliti­nvr dem Aus? GABRIEL: Vor einer Woche hätte ich noch gesagt, das pendelt sich ein. Aber als ich zuletzt die Interviews gelesen habe, dachte ich: Da ist ja keiner dabei, der mal eine Leiter an den Baum stellt, damit man wieder aus den Baumwipfel­n runter klettern kann. Im Gegenteil: Bis in die Astspitzen klettert man weiter hoch. Die CSU handelt einerseits machtverge­ssen, weil sie vergisst, wie wichtig Deutschlan­d für die europäisch­e Einigung ist. Und sie ist zugleich, was Bayern betrifft, machtverse­ssen. Ausgerechn­et ich als Sozi sage: Ich kann nur hoffen, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt. FRAGE: Warum schmeißen Sie sich für die Kanzlerin in die Bresche? GABRIEL: Weil sie das deutsche Gewicht in Europa, aber auch das europäisch­e Gewicht für Deutschlan­d spürt. Das fehlt scheinbar den meisten anderen. Sie hat ein Gefühl für die Gewichte in der Welt. Das ist der CSU offenbar völlig verloren gegangen. Es hat sich bei der CSU etwas angestaut, die Halsschlag­ader ist immer dicker geworden. Das scheint sich jetzt unkontroll­iert Bahn zu brechen. „Bavaria first“lautet der Slogan der CSU. Das ist hochriskan­t, und die CSU wird nicht dafür belohnt, wenn sie diese Bundesregi­erung zerstört und Deutschlan­d und Europa ins Chaos stürzt. FRAGE:Vn dem deutschen Stabilität­sanker kann keine Rede mehr sein... GABRIEL: Die große Koalition ist zwar nicht sehr beliebt, aber was die Bürger bislang immer geschätzt haben ist, dass sie für Stabilität gesorgt hat. Es verunsiche­rt die Bürger enorm, dass selbst das nicht mehr gilt. Stattdesse­n legen wir die Lunte an die europäisch­e Einheit. FRAGE: Die SPD hat sichvr über 100 Jahren wegen der Kriegskred­ite gespalten, f lgt nun die Uni n wegen des Flüchtling­sk nflikts? GABRIEL: Man fragt sich, sind die völlig wahnsinnig? Bisher habe ich nur die politische Linke in Deutschlan­d für so rechthaber­isch gehalten, dass sie sich lieber spaltet als regiert. Aber scheinbar ist der Irrsinn auch in der Union angekommen. Aber ich halte es

noch immer nicht für so wahrschein­lich. Würde man sich trennen, würde die CDU sofort in Bayern antreten, und die CSU hätte ihren Nimbus als bayerische Volksparte­i verloren. Das letzte Mal, dass so etwas diskutiert worden ist, war 1976 in Wildbad Kreuth. Aber Franz-Josef Strauß wusste, dass die CSU dann zu einer Regionalpa­rtei wird. Das Beispiel der Sozialdemo­kratie zeigt – wenn man sich häutet, wird man nicht stärker. FRAGE: Wer hat nun recht? GABRIEL: Das Verrückte ist, beide haben recht. Seehofer hat recht, dass wir wieder mehr Kontrolle über die deutschen Grenzen brauchen. Und Merkel hat recht, dass das nicht geht ohne europäisch­e Absprachen. Sonst haben sie vagabundie­rende Flüchtling­sströme innerhalb europäisch­er Binnengren­zen. Man fragt sich wirklich, wieso beide keinen gemeinsame­n Weg finden. FRAGE: Es geht um ein paar tausend Fälle im Jahr v n bereits in anderen EU-Staaten registrier­ten Asylbewerb­ern, die Seeh fer nun an der Grenze abweisen lassen will. Ist der K nflikt nicht lösbar? GABRIEL: Die Migrations- und Flüchtling­sfrage ist ein Jahrhunder­tthema. Dabei sind die Zahlen zuletzt deutlich zurückgega­ngen, aber Krieg, Bürgerkrie­g und bittere Armut bleiben ja leider als Fluchtgrün­de. Auch die höchsten Zäune werden die Menschen nicht aufhalten, wenn das Leben zuhause unerträgli­ch ist. Es wird sicher nicht die eine Lösung geben. In einer so schwierige­n Lage, wo es wirklich darum geht, die EU zusammenzu­halten, meint die CSU, die Regierung in Deutschlan­d erpressen zu müssen, das ist unfassbar. FRAGE: Was ist Ihrer Meinung nach das treibende M tiv: Die Angst v r der AfD der eine „Merkel muss weg“-Stimmung? GABRIEL: Die CSU-Strategen spielen mit dem Schicksal Deutschlan­ds und Europas, in der Hoffnung, dass sie bei einer Landtagswa­hl die AfD klein halten, wenn man selbst wie so eine Art Bonsai-AfD erscheint. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Und es geht wohl um einen Rachefeldz­ug gegen Angela Merkel, es geht um die Geschichts­bücher: Hat Seehofer Recht gehabt oder Merkel. Und es geht um ein „take back control“über CDU und CSU und nicht über die Sicherheit an den deutschen Grenzen. Es gibt viele in der Union, die denlibe ral-konservati­ven Kurs von Angela Merkel seit langem kritisch sehen, seit vielen Jahren, das fing mit der Wende in der Atompoliti­k an, die Flüchtling­s aufnahme von über einer Million Menschen hat bei denen das Fass zum Überlaufen gebracht. FRAGE: Die SPD ist hier d ch selbst tief gespalten, beim Thema Flüchtling­e reichen die Psitinenvn„Re fuge eswelcme“bis Abs chttung. GABRIEL: Ich würde nicht sagen, wir haben alles richtig gemacht in der Flüchtling­sfrage. Auch wir Sozialdemo­kraten müssen zu einem realistisc­hen Blick kommen. Wenn Andrea Nahles eine Binsenweis­heit sagt wie „Wir können nicht alle aufnehmen“, dann gibt es faste in Ausschluss­verfahren gegen sie. Das zeigt, wie weit manche auch bei uns von der Realität weg sind. FRAGE: Was ist schiefgela­ufen im berühmten Flüchtling­s september 2015? GABRIEL: Zur Wahrheit gehört, dass wir das 2015 im Überschwan­g und aus einer humanitäre­n Geste heraus gemacht haben, ohne uns mit unseren europäisch­en Nachbarn abzustimme­n. Ich habe von Anfang an davor gewarnt, naiv zu sein und schon im September 2015 für punktuelle Grenzkontr­ollen geworben, damit nicht weiter jeden Tag 5000 Flüchtling­e in das Land kommen. Aber gerade in der SPD wollte das niemand hören. Allein Nordrhein-Westfalen hat mit rund 400 000 Menschen mehr Flüchtling­e aufgenomme­n als Italien. Aber umgerechne­t auf die Einwohnerz­ahl kommt nur ein Flüchtling auf 80 Deutsche. Von „Überfremdu­ng“kann man wirklich nicht reden. Die Frage ist doch vielmehr, ob dieser eine Flüchtling auf 80 Deutsche in der Mitte der Gesellscha­ft steht oder an den Rand gedrückt wird. FRAGE: Wie lautet denn ihr Masterplan für eine eur päische Lösung? GABRIEL: Wir brauchen in Europa eine Koalition der Willigen mit unterschie­dlichen Instrument­en: Finanziell­e Hilfen für diejenigen, die Flüchtling­e aufnehmen, eine Einigung, wer hat welche Fälle zu bearbeiten. Wer nimmt wie viele auf unter den Willigen? Man muss, wie Frankreich­s Präsident Macron das versucht, stärker beim Staatsaufb­au zum Beispiel in Libyen helfen, um dann diese fürchterli­chen Sklavenhän­dler-Lager aufzulösen, dazu wird es militärisc­he Gewalt brauchen, um dann unter dem Dach des UN-Flüchtling­swerks ähnliches aufzubauen, wie wir es mit der Türkei gemacht haben. Einen der klügsten Vorschläge hat übrigens EU-Parlaments­präsident Antonio Tajani mit seinem Vorschlag für ein Milliarden­programm zur Schließung der Mittelmeer­route gemacht. FRAGE: 4ft hört man, für Flüchtling­e ist Geld da, nicht für die Sanierung der Schulen. Wie s ll im Inland die Gesellscha­ft befriedet werden? GABRIEL: Ich bleibe dabei, dass die Idee eines großen Solidaritä­tspakts die Gesellscha­ft wieder zusammenfü­hren würde. Wir haben eine doppelte Integratio­nsaufgabe: Für die, die kommen und für die, die da sind. Es kann nicht sein, dass jemand, der 40 Jahre gearbeitet hat, unter 1000 Euro Rente bekommt. Am Ende muss so jemand eine Mindestren­te bekommen, die meiner Meinung nach über 1000 Euro pro Monat liegen muss, wenn 40 Jahre und länger in Vollzeit gearbeitet wurde. Wir sind bisher nicht dazu in der Lage, dass junge Familien preiswerte­n und bezahlbare­n Wohnraum finden. Und wir dürfen kleine Orte, die Heimat, nicht verkommen lassen.

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