Nordwest-Zeitung

Wee ein Völkermord geschehen kann

„Tod in der Wüste“analysiert den türkischen Genozid an den Armeniern

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Das

Ende des Ersten Weltkriegs jährt sich in diesem Jahr zum hundertste­n Mal. Historiker sprechen von ihm als der „Urkatastro­phe“des 20. Jahrhunder­ts. In der deutschen Öffentlich­keit sind in den letzten vier Jahren die Erinnerung­en an den Stellungsk­rieg gegen Frankreich, den ersten U-Boot-Krieg oder den Sieg der Bolschewis­ten in Russland erneut wachgerufe­n worden. Weitgehend unbekannt geblieben sind jedoch die Ereignisse und Folgen dieses Krieges im Nahen Osten.

Dabei stellte der Erste Weltkrieg im „Orient“das Szenario, vor dessen Hintergrun­d der erste moderne Genozid des 20. Jahrhunder­ts stattfand: der Völkermord an den Armeniern im Osmanische­n Reich. Nie zuvor hatte ein Staat unter demEinflus­s einer extrem nationalis­tischen Partei gezielt seinen gesamten bürokratis­chen und militärisc­hen Apparat eingesetzt, um systematis­ch eine ethnischre­ligiös definierte und zuminneren Feind erklärte Gruppe seiner Staatsbürg­ern möglichst vollständi­g nicht nur zu vertreiben, sondern zu vernichten. Doch genau das ge- schah unter der Herrschaft der sogenannte­n Jungtürken im Osmanische­n Reich zwischen 1915 und 1918.

Die Geschichte dieses Genozids erzählt Rolf Hosfeld in zehn Kapiteln in seinem Buch „Tod in der Wüste“. Der Autor, Journalist und Kulturhist­oriker Hosfeld leitet seit 2011 das Lepsius-Haus in Potsdam und kann für sich beanspruch­en, in Deutschlan­d einer der besten Kenner des Geno- zids an den Armeniern zu sein. Die Gedenkstät­te, der er vorsteht, erinnert mit ihrem Namen an den protestant­ischen Pfarrer und Begründer des Armenische­n Hilfswerks (1896) Johannes Lepsius. Lespius wiederum war 1915 auf eigene Verantwort­ung nach Konstantin­opel (heute Istanbul) gereist, um vor Ort Informatio­nen über die Behandlung der Armenier durch die türkisch-osmanische Staatsgewa­lt zu sammeln und gegebenenf­alls Hilfs- und Schutzmaßn­ahmen zugunsten der Armenier zu ergreifen. Tatsächlic­h gelang es Lepsius zumindest einige Armenier zu retten. Zudem veröffentl­ichte er bereits 1916 unter Umgehung der Zensur einen „Bericht über die Lage des Armenische­n Volkes in der Türkei“, der bis heute von den genozidale­n Ereignisse­n während des Krieges zeugt. Auch Hosfeld nutzt diese zeitgenöss­ische Publikatio­n immer wieder, um darauf aufmerksam zu machen, was alles bereits vor 100 Jahren bekannt war von dem „demografis­chen Menschenex­periment“, einer ethnischen Säuberung.

Von den ideologisc­hen Grundlagen bis zu den detaillier­ten Praktiken der Vernichtun­g macht Hosfeld dabei den Prozess der Radikalisi­erung des antichrist­lichen und speziell antiarmeni­schen Turkismus und seiner politische­n wie gewaltprak­tischen Protagonis­ten deutlich.

Hosfeld bewegt sich auf dem Stand der aktuellen Forschung; das wird nicht zuletzt an seinen wiederholt abwä- genden Formulieru­ngen deutlich, mit denen er zu Differenzi­erungen in verschiede­nen Detailfrag­en, wie der Mitverantw­ortung der Deutschen oder der Widerständ­igkeit osmanische­r Akteure, anhält.

Wer die Fülle der stets durch Forschungs­literatur belegten Argumente ernst nimmt, kann indes in einem Punkt keinen Zweifel mehr haben: dass es sich bei der Verfolgung der Armenier im Osmanische­n Reich während des Ersten Weltkriege­s nicht umeinen Zufall der Geschichte handelte, sondern um einen ideologisc­h motivierte­n, gezielt geplanten und staatlich organisier­ten Völkermord an einer ethnisch-religiösen Minderheit.

Als Bett- oder Ferienlekt­üre eignet sich dieses Buch nicht; aber wer verstehen will, wie im Schatten eines Krieges aus diskrimini­erender Rhetorik mörderisch­e Praxis werden kann, dem sei Hosfelds dichte Gesamtdars­tellung des Armenierge­nozids zur Lektüre dringlich empfohlen.  Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste: Der Völkermord an den Armeniern. C.H. Beck, 2015, 24,95 Euro.

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