Nordwest-Zeitung

Generalabr­echnung im Bundestag

So reagieren die Opposition­sparteien auf den Kompromiss zwischen den Unionspart­eien

- V N ANNE-BEATRICE CLASMANN UND J RG BLAN

Für Horst Seehofer gibt es zum 69. Geburtstag Spott mit Schleife drum. er Innenminis­ter muss jetzt liefern.

BERLIN Es ist die Generalabr­echnung im Bundestag, und die AfD wettert mal wieder gegen die liberale Flüchtling­spolitik von 2015. Ihre Fraktionsc­hefin Alice Weidel, die in der Generaldeb­atte zum Haushalt 2018 als Vertreteri­n der größten Opposition­spartei zuerst spricht, fordert Kanzlerin Angela Merkel zum Rücktritt auf: „Machen Sie dem Trauerspie­l ein Ende und treten Sie bitte ab.“Auch Fraktionsc­hef Alexander Gauland betont: „Eine Kanzlerin, der man die Herstellun­g des Rechtes Schritt für Schritt mühevoll abringen muss, ist und bleibt, seien Sie mir nicht böse, eine Fehlbesetz­ung.“

Doch die Fundamenta­lkritik in Endlosschl­eife hat sich abgenutzt, genauso wie die ständigen Zwischenru­fe aus den Reihen der AfD. Es stellt sich ohnehin die Frage: Ist diese Kanzlerin, die bei der Generaldeb­atte von „Recht und Ordnung in der Migrations­politik“spricht, überhaupt noch die Frau, die Flüchtling­en „ein freundlich­es Gesicht“zeigen will?

In viele freundlich­e Gesichter blickt an diesem Morgen Bundesinne­nminister Horst Seehofer. Doch die Gratulatio­nen, die der CSU-Vorsitzend­e auf der Regierungs­bank entgegenni­mmt, gelten nicht seinen Plänen zur Zurückweis­ung von bereits in der EU registrier­ten Asylbewerb­ern an drei Grenzüberg­ängen in Bayern. Seehofer hat Geburtstag. Er ist jetzt 69 Jahre alt. Zum Feiern bleibt aber kaum Zeit. Seehofer muss liefern.

Denn sonst könnten die neuen Grenz-Regelungen, die er Merkel mit einer Rücktritts­drohung abgetrotzt hat, doch noch gekippt werden: von einer SPD, deren Mitglieder in der Asylfrage vielleicht sogar noch stärker gespalten sind als die Union. Oder von den Regierunge­n in Wien und Rom, wo Rechtspopu­listen mit am Kabinettst­isch sitzen. Denn die wollen unbedingt den Eindruck vermeiden, Österreich und Italien stünden bereit, um die Folgen einer deutschen Kursversch­iebung in der Asylpoliti­k auszubaden.

Das Armdrücken von Seehofer und Merkel erlaubt der von schlechten Umfragewer­ten gebeutelte­n SPD an diesem Tag, sich als einzig konstrukti­ve Kraft in der Regierung zu inszeniere­n. Fraktionsc­hefin Andrea Nahles sagt: „Es ist gut, dass nun alle Teile der Bundesregi­erung zur normalen Arbeit zurückkehr­en.“

Eine ziemlich entspannt wirkende Kanzlerin versucht nach dem wohl in letzter Minute verhindert­en Scheitern der fast 70 Jahre alten Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU, ein Signal der Verlässlic­hkeit zu senden. Unaufgereg­t und ohne Schnörkel zieht Merkel nach etwas mehr als 100 Tagen ihrer vierten Kanzlersch­aft Zwischenbi­lanz: „Diese Bundesregi­erung arbeitet. Sie ist sich bewusst, dass sie viel zu tun hat. Sie wird die gesellscha­ftlichen Fragen so versuchen zu lösen, dass es zu einem besseren Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft kommt.“

Kritiker könnten Merkel danach ohne große Übertreibu­ng vorhalten, sie sei in ihren altbekannt­en und viel kritisiert­en Modus zurückgefa­llen: Regierungs­politik per Schlaftabl­ette. „Eine Mischung aus Chaos und Koma“, ätzt Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter.

Als sie die Migrations­ergebnisse des jüngsten EUGipfels vorträgt, weicht Merkel nicht ein Jota von ihrer Linie ab. Migration sei die Schicksals­frage Europas, betont sie. Zurückweis­ungen an der Grenze ja, aber nicht im Alice nationalen Alleingang, nicht unabgestim­mt und nicht zu Lasten Dritter. Seehofer checkt bei diesen Worten sein Mobiltelef­on – natürlich weiß der Innenminis­ter, dass das gegen ihn geht.

Als FDP-Fraktionsc­hef Christian Lindner dann Merkel und Seehofer später süffisant unter die Nase reibt, dass ja nun der Innenminis­ter jene Abkommen mit anderen EULändern aushandeln müsse, die die Kanzlerin nicht zustande gebracht habe, kann sich Merkel ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich glaube, im Bundeskanz­leramt biegen die sich vor Lachen, Herr Seehofer“, ruft Lindner dem Innenminis­ter entgegen. Seehofer versucht, seinen Ärger nicht zu zeigen.

„Es gibt keine Sieger“, analysiert Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch. Mit ihrem Verhalten hätten CDU und CSU der Demokratie schweren Schaden zugefügt und die die Politikerv­erdrossenh­eit in Deutschlan­d befördert.

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Grünen-Fraktionsv­orsitzende­r Anton Hofreiter Linken-Fraktionsv­orsitzende­r Dietmar Bartsch
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AfD-Fraktionsv­orsitzende Weidel
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FDP-Fraktionsv­orsitzende­r Christian Lindner
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BILDER: DPA

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