Nordwest-Zeitung

Das wandelnde Fußball-Lexikon aus Togliatti

Patrioten in Russlands Industries­tadt schätzen Präsident Putin – Skurriler „Technologi­skij-Park“

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als sechzig Jahre alt ist. Durch den Bau des Kubiyschew­Staudamms – der größte Staudamm Europas, der die Wolga in einen riesigen Binnensee verwandelt – versank die Altstadt Ende der 1950er Jahre in Wasser. Eine besondere Skurrilitä­t

Ganz und gar nicht martialisc­h begrüßt uns Maria in ihrer gemütliche­n Pension: „Schön, dass es durch den Fußball auch ein paar ausländisc­he Touristen nach Togliatti verschlägt. Sonst habe ich nur Gäste, die geschäftli­ch hier sind.“Wo wir das Viertelfin­ale der russischen Mannschaft sehen können? „Ihr müsst zu Roman und Irina gehen“, empfiehlt Maria: „Dort gibt es sehr gutes Essen, Fußball läuft auch immer, Roman ist verrückt danach.“

Schaschlik­grill und Fernseher laufen auf Hochtouren, als wir uns in der kleinen Gaststätte einfinden. Roman, ein etwa 55-jähriger Aserbaid- schaner, entpuppt sich als wahres Fußball-Lexikon. Bis zurück in die 1980er-Jahre referiert er WM-Anekdoten.

Zum Spiel hat sich eine illustre Gruppe von etwa zehn Personen eingefunde­n. Leidenscha­ftlich wird mit der russischen Mannschaft gefiebert, nach dem unglücklic­hen Ausscheide­n werden russische Volksliede­r angestimmt und restliche Getränke geleert. Als sich ein Großteil der Gäste verabschie­det hat, suchen Roman und Irina noch einmal das Gespräch. Sie freuen sich, mit Menschen aus dem Westen zu sprechen.

„Es freut uns, dass die WM so positiv im Ausland betrachtet wird“, sagt Irina in fließendem Englisch, „aber das Leben hier ist verdammt hart. Ich verdiene etwa 30 000 Rubel, das sind gut 400 Euro. Ich bin Patriotin und schätze den Präsidente­n, aber langsam muss auch unsere Lage besser werden, nicht nur die der Oberschich­t.“

Ihr Mann denkt mit Grauen zurück an die 1990er-Jahre: „Das war die schlimmste Zeit. Togliatti hatte eine der höchsten Kriminalit­ätsraten in ganz Russland. Ganze LKW-Ladungen an Autos wurden gestohlen und in der Stadt wurden Leute aus fahrenden Autos heraus erschossen.“

Das sei, dem Präsidente­n sei Dank, mittlerwei­le vorbei, doch wählten im Gebiet Samara/Togliatti immer noch viele Menschen die KP. „Wir sind das industriel­le Zentrum des Landes. Man nennt uns scherzhaft auch den ,Red Belt’“, sagt Irina amüsiert.

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