Ein verheerendes Signal
Warum das NSU-Urteil weder Erleichterung noch Schlussstrich ist
Nachts um 3.30 Uhr kamen die Neonazis, unter ihnen ein verurteilter Rechtsterrorist. Bald zog sich die Besucherschlange über den gesamten Vorplatz. Die ersten Besucher waren schon um 22 Uhr am Vorabend gekommen, um der Öffnung der Gerichtstüren um 7.30 zu harren. Schlaflose Nebenkläger und Anwälte schauten nachts auch schon vorbei.
„Es ist schön zu sehen, dass wir nicht allein sind“, sagte etwa Semiya Simsek, die Tochter des ersten NSU-Mordopfers, die ihren Vater vor bald 18 Jahren verloren hat. Für die Urteilsverkündung in diesem Mammutprozess waren viele Hinterbliebene angereist. Eine Erleichterung erhofften sich alle mit dem Urteil.
In den Nachtstunden musste man unweigerlich an Angela Merkels Worte vom Februar 2012 zurückdenken: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“
Nachts zogen Szenen aus dem Prozess und den Untersuchungsausschüssen vorbei: Da waren die Neonazis, die den Prozess als „Affentheater“verhöhnten. Da war der Zeuge, der versicherte, Uwe Mundlos hätte zur Zeit der NSU-Morde in der Baufirma eines V-Manns gearbeitet. Der Staatsanwalt, der berichtete, dass Verfassungsschützer regelmäßig die Ermittlungsakten eines V-Manns eingesehen und die Polizei vor einer „Hexenjagd“auf ihren Spitzel gewarnt hatten.
Da konstatierte der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt forsch, es dürften „keine Staatsgeheimnisse bekanntwerden, die ein Regierungshandeln unterminieren“. Da wurden bundesweit Verfassungsschutzakten geschreddert, V-Männer und Verfassungsschützer vor Strafverfolgung geschützt.
Heute wissen wir, dass der sächsische Verfassungsschutz schon im Frühling 2000, also vor dem ersten NSU-Mord, befand, dass von dem untergetauchten Trio „schwerste
Straftaten“zu erwarten seien. „Finden Sie nichts raus“, musste ein Thüringer Ermittler von einem Vorgesetzten hören.
Grund zur Besorgnis liefert noch heute die Tatsache, dass das Terrornetzwerk nicht ansatzweise ausermittelt wurde. Die Ausspähliste des NSU zum Beispiel enthält so detaillierte Angaben zu 10 000 potenziellen Tatorten, dass sich die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses im Bundestag sicher sind, dass es ein bundesweites Unterstützernetzwerk gab, das möglicherweise noch intakt ist.
Angeklagt war nur die Spitze des Eisbergs, Bemühungen der Nebenkläger, Antworten auf die brennenden Fragen ihrer Mandanten zu finden, wurden vom vorsitzenden Richter Manfred Götzl und der Bundesanwaltschaft im Keim erstickt.
Die Ermittlungsverfahren gegen neun weitere Beschuldigte, darunter die Ehefrau des Verurteilten Andre Eminger sowie mindestens einen V-Mann, drohen in die Verjährung getrieben zu werden. Geschehen ist das 2016 schon einmal vor aller Augen: Im Falle des Verfassungsschutzmitarbeiters, der im November 2011 vorsätzlich tausende Aktenseiten geschreddert hatte, um die Vielzahl von V-Männern rund um den NSU zu vertuschen.
All das passierte Revue in dieser schlaflosen Nacht vor der Urteilsverkündung.
Der sechste Senat des Oberlandesgerichts ist nicht eben für Milde bekannt. Doch ausgerechnet bei den beiden Angeklagten, die an ihrer Gesinnung keinerlei Zweifel ließen, Ralf Wohlleben und André Erminger, die regelmäßig durch neonazistische Statements, ideologische Beweisanträge und Szenekleidung auf sich aufmerksam machten, ausgerechnet bei diesen beiden bleibt das Gericht deutlich unter der Strafmaßforderung der Oberstaatsanwälte.
Und das, obwohl die Bundesanwaltschaft davon ausgeht, dass Eminger, dessen Bauch die Tätowierung „Die Jew die“(Stirb Jude, stirb) ziert und der bis zuletzt zu den engsten Vertrauten des Terrortrios zählte, vollumfänglich über die Taten informiert war und möglicherweise sogar der „vierte Mann“im zynischen Bekennervideo des NSU gewesen sein könnte. Von der Beihilfe zum versuchten Mord sprach ihn der Senat frei, sodass er nur wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu verurteilen war. Der gesetzliche Strafrahmen von zehn Jahren wurde nicht annähernd ausgeschöpft, Eminger wurde mit einem Strafmaß von zweieinhalb Jahren geradezu belohnt, sein Haftbefehl aufgehoben.
Nach einem kurzen, ungläubigen Schweigen brandete Applaus unter den Neonazis auf der Tribüne auf. Das Klatschen der Neonazis und die verzweifelten Schluchzen der Hinterbliebenen haben in einem der wichtigsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte den Schlussakkord gesetzt. Nein, das kann kein Schlussstrich sein!