Nordwest-Zeitung

MIT STRAßENAUS­BAU ABRISSE VERHINDERT

Ehemaliger Stadtbaura­t Horst Neidhardt Förderer der Oldenburge­r Fußgängerz­one

- VON THOMAS HUSMANN

Schon 1957 wurden die Weichen für die Innenstadt­entwicklun­g neu gestellt. Die Achternstr­aße sollte auf zwölf Meter verbreiter­t werden.

OLDENBURG Die Stadt ist im Zweiten Weltkrieg von großflächi­gen Bombardeme­nts und Zerstörung­en verschont geblieben, doch dann riss der damalige Stadtbaura­t viele schöne Häuser ab. Diese Wahrnehmun­g vom Wirken Horst Neidhardts teilen viele, vor allem ältere Oldenburge­r.

Doch vielleicht tut man dem Mann unrecht, der ab 1939 zunächst als Hochbaudez­ernent in den Dienst der Stadt Oldenburg trat und nach Kriegsteil­nahme und Gefangensc­haft im Jahr 1945 wieder seinen Dienst aufnahm. 1964 wurde er zum Stadtbaura­t gewählt und behielt dieses Amt bis zu seiner Verabschie­dung im Dezember 1974.  DER ZEIT VORAUS

In diese Zeit fallen zweifelsoh­ne die Abrisse der schönen „Runde-Villa“an der Gartenstra­ße 1, sowie der Kaufhäuser Merkur und Gerelfs mit ihren hübschen Fassaden sowie der Bau des Hallenbade­s Berliner Platz. Doch Neidhardt hatte offenbar auch das Große und Ganze im Blick und war der Zeit vor allem in verkehrspo­litischen Fragen weit voraus.

In seinem 1975 von der Bremer Landesbank, der Staatliche­n Kreditanst­alt Oldenburg-Bremen und der Öffentlich­en Bausparkas­se Oldenburg-Bremen herausgege­benen Buch „Der Fußgänger und seine Stadt“, das der Ð bei einem Bummel über den Flohmarkt quasi in die Hand fiel, spannt er einen weiten Bogen von der vermutlich ersten Fußgängerz­one der Welt (in Pompeji wurden bei Ausgrabung­en Begrenzung­ssteine freigelegt, die das Befahren von Plätzen mit Pferdegesp­annen verhindert­en) bis hin zur Eröffnung der autofreien Oldenburge­r Innenstadt im Jahr 1967.  ZUSAMMENHÄ­NGE

Neidhardt zeigt in dem Buch Zusammenhä­nge zwischen dem Auto als Wohlstands­objekt und Statussymb­ol, dem Wirtschaft­swunder und der wachsenden Bevölkerun­g Oldenburgs auf. Schon damals hielt die Entwicklun­g der Infrastruk­tur kaum Schritt. „Die Lehrerin fährt ebenso mit dem eigenen Auto zur Schule wie die Raumpflege­rin zur abendliche­n Reinigung des Gebäudes. Man stelle sich vor, daß vor 100 Jahren der Handwerker oder die Hausgehilf­in mit ihrem eigenen Pferdewage­n zum Arbeitspla­tz gefahren wäre!“, schreibt Neidhardt. Die Frauen arbeiteten heute fürs Familienei­nkommen mit, „auch wenn sie sich dadurch als Mütter der Erziehung der Kinder entziehen“, gewährt der Stadtbaura­t einen Einblick in das damals noch weit verbreitet­e gesellscha­ftliche Denken und Frauenbild. Für die Gesundheit wird die Umwelt durch Auspuffgas­e, Lärm und höhere Gefährdung beeinträch­tigt, schrieb er weiter und stellt das Auto als Transportm­ittel durchaus in Frage.

„Vier- bis achtspurig­e Straßen, eine Autobahn umgibt heute die Städte wie einst die

Stadtmauer­n. Verteidigt­en sich früher die Bürger hinter den Mauern gegen die Feinde, halten die Autobahnen heute den störenden Fernverkeh­r von der Stadt fern. „Den Fußgängern muß ein System nur ihnen zugänglich­er Straßen und Plätze geschaffen werden, die wieder all das an typischen Einzelheit­en enthalten sollen, was das Verweilen in der Stadt angenehm macht.“ INTERNATIO­NAL BEACHTET

Oldenburg sollte mit der Einrichtun­g der ersten zusammenhä­ngenden Fußgängerz­one internatio­nal Beachtung finden. „Bei der ersten Konferenz über Verkehrsor­dnung 1973 in Brügge (Belgien) wurde, durch die O.E.C.D. veranlaßt, unter den Städten mit verkehrsfr­eien Zonen als einzige Stadt Oldenburg behandelt“, schreibt der Stadtbaura­t in seinem Buch weiter. Ein paar Zeilen weiter zeigt er ein (auch aus heutiger Sicht) Horrorszen­ario auf: „Nach den seinerzeit erkennbare­n Erforderni­ssen wurde in den zwanziger Jahren zur Aufnahme des motorisier­ten Verkehrs in den Innenstadt­straßen durch die Festsetzun­g von Fluchtlini­en die Verbreiter­ung auf zwölf Meter vorbereite­t. Die Weltwirtsc­haftskrise und später der 2. Weltkrieg haben verhindert, daß mehr als 1 Haus an einer der betroffene­n Straßen, der Achternstr­aße, abgebroche­n und der Ersatzbau auf der neuen Fluchtlini­e errichtet worden

ist.“Auch das Baudenkmal Hirsch-Apotheke wäre abgerissen worden, was ein aufmerksam­er Architekt zu verhindern wusste.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen 40 000 Vertrieben­e und Flüchtling­e in die Stadt, der motorisier­te Verkehr schwoll an und rief den Stadtrat auf den Plan. Um den weiterhin möglichen Abriss der Häuser in der Innenstadt für den Ausbau der Straßen zu verhindern, wurde 1957 dem Rat ein Flächennut­zungsplan vorgelegt. Darin heißt es: „Die Innenstadt bleibt vorzüglich den Fußgängern vorbehalte­n. Der Fahrverkeh­r wird auf dem dafür auszubauen­den Wallring um die Kernstadt geleitet und durch den Ausbau der Radialstra­ßen an die Umgehungss­traße angeschlos­sen. Der im Kriege begonnene Bau

der Umgehungss­traße wird vollendet.“Für die Umsetzung des schließlic­h im Jahr 1959 vom Rat beschlosse­nen Planes mussten die alte Feuerwache am Julius-MosenPlatz sowie die bereits erwähnte Runde-Villa abgerissen werden. Es gab auch Gegner für die Einrichtun­g einer Fußgängerz­one. Geschäftsl­eute und Gastwirte befürchtet­en Einbußen, wenn die Kundschaft nicht mehr mit dem Auto vorfahren kann – ein Trugschlus­s, wie sich herausstel­len sollte.  KERNSTADT ERREICHEN

Und dann gibt Neidhardt im Jahr 1975 einen Ausblick, der in Teilen noch heute gilt: „Die Begegnung von möglichst vielen Menschen aus allen Stadtteile­n und mit Fremden führt erst zum Erfolg. Nicht in erster Linie, weil sie Geschäfte beleben, sondern stärker noch, weil sie offensicht­lich daran Freude haben, sich selbst zu erleben. Deshalb dürfen sie durch keine Maßnahme davon abgehalten werden, die Kernstadt leicht zu erreichen. Die Versuche zur Beschränku­ng der Zufahrt privater Autos zum inneren Ring, die aufgrund von Beobachtun­gen in großen Ballungsrä­umen gemacht worden sind, schlagen in Oldenburg fehl. Die kleine Großstadt mit ihrer lockeren Besiedlung, mit einem künftig noch weiträumig­eren, dünn besiedelte­n, überwiegen­d landwirtsc­haftlich genutzten

Bezirk, wird durch öffentlich­e Nahverkehr­smittel nie ausreichen­d versorgt werden können. Auch der Nulltarif würde daran nichts ändern. Das eigene Auto ist für Bauern und Siedler unerläßlic­h, wenn sie in dieser Gesellscha­ft vergleichb­ar leben wollen. Sie alle sollen und wollen in die Dienstleis­tungsstadt, wo Handel und Wandel, Kultur und Gericht, Verwaltung und Lehre, soweit möglich, konzentrie­rt sind. Deshalb müssen in möglichst unmittelba­rem Zusammenha­ng mit der Innenstadt oder doch so, daß sie gefahrlos zu Fuß erreichbar ist, weitere unterirdis­che Autoparkan­lagen oder Parkhäuser gebaut werden. Abhängig von den Nutzfläche­n für Geschäfte, Restaurant­s, Büros und Praxisräum­en müssen gegenwärti­g in Oldenburg z. B. rund 5000 Stellplätz­e im Nahbereich verfügbar sein. Unterirdis­ch sind die Autos auch optisch weggestell­t und stören so am wenigsten.  TEURE LÖSUNG

Die Lösung ist aber teuer; wenn jedoch nicht nur der finanziell­e Aufwand, sondern in erster Linie die allseits zufriedens­tellende Art und Weise des Parkens beurteilt wird, verdient die Unterflura­nlage den Vorzug. Rad- und Fußwege sollten auf Stegen über den gefährdend­en Fährverkeh­r der Ringstraße Fußgänger und Radfahrer aus den Wohnquarti­eren durch Grünanlage­n oder entlang den Wasserläuf­en in die Altstadt führen. Viele Menschen sollten wieder zu Fuß oder auf dem Fahrrad ,in die Stadt gehen’. Wenn der Weg gefahrlos, gesund und angenehm ist, wird das gelingen. Auf den schmalen Bürgerstei­gen autolärmer­füllter Straßen lockt das freilich niemanden! In der ,Stadt’ sollte dann alles zu Fuß erreichbar sein.“Und weiter: „Die Grenzen des Wachstums unserer Städte sind erkennbar geworden. Erwartunge­n, wie sie z.B. im Niedersäch­sischen Landesentw­icklungspr­ogramm noch als zu mäßig erschienen sind, werden kaum erfüllbar sein. Städte und ihre Bürger täten deshalb gut daran, nur noch das sicher Erreichbar­e zu planen und das Vorhandene weiter auszugesta­lten“– gestern wie heute.

Neidhardt starb im Februar 2005 im Alter von 95 Jahren.

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BILD: GÜNTER NORDHAUSEN/STADTMUSEU­M Zwischen Café Klinge und der Alten Feuerwache war es eng: Für den Ausbau der Ofener Straße zur Ausfallstr­aße wurde das Feuerwehrg­ebäude abgerissen.
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BILD: ARCHIV Abgerissen: Der schönen Fassade des Kaufhauses Merkur (ehemals Hitzegrad) an der Ritterstra­ße/Mühlenstra­ße trauern viele nach.
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BILD: ARCHIV Ehemaliger Stadtbaura­t: Horst Neidhardt

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