Nordwest-Zeitung

Ruhig gestellt und für Medizintes­ts missbrauch­t

2as behinderte Kinder in der Nachkriegs­zeit in Heimen erlebten

- VON HELEN HOFFMANN

ROTENBURG Klaus Brünjes teilt ein Schicksal mit Zehntausen­den Menschen in Deutschlan­d. Als Kind und Jugendlich­er erlebte er einen Alltag, der geprägt war von Fremdbesti­mmung, Medikament­en und Gewalt. „Man musste sich unterordne­n“, sagt der heute 60-Jährige über sein Leben in einer Einrichtun­g für Behinderte. „Freiheit und Selbstbest­immung gab es nicht, sondern Unterwerfu­ng. Wer rumgetobt hat, hat Medikament­e bekommen, oder er ist abgeholt worden und war dann in der Zelle.“Die Kinder, die nicht sprechen konnten, habe es besonders hart getroffen.

Was Brünjes in Rotenburg an der Wümme erlebte, war kein Einzelfall. Das Bundessozi­alminister­ium geht von knapp 100000 noch lebenden Frauen und Männern aus, die nach 1949 als Kinder und Jugendlich­e in stationäre­n Einrichtun­gen der Behinderte­nhilfe oder Psychiatri­e wahrschein­lich Leid und Unrecht erfahren haben. Nach und nach kommt ans Licht, was viele behinderte oder als auffällig eingestuft­e Menschen in der Nachkriegs­zeit erleben mussten. Sie wurden geschlagen, ruhig gestellt und für Medizintes­ts missbrauch­t.

Die kirchliche Einrichtun­g in Rotenburg arbeitet ihre dunkle Vergangenh­eit mit

Hilfe von zwei Wissenscha­ftlerinnen und zwei Historiker­n auf. Nach deren jüngst veröffentl­ichtem Buch „Hinter dem Grünen Tor. Die Rotenburge­r Anstalten der Inneren

Mission, 1945-1975“bekamen unruhige Kinder und Jugendlich­e hohe Dosen an Psychophar­maka und Beruhigung­smitteln. Die Pharmazeut­in Sylvia Wagner aus Krefeld fand zudem Belege dafür, dass nicht zugelassen­e Medikament­e an Minderjähr­igen getestet wurden, etwa um Bettnässen zu verhindern oder den Sexualtrie­b männlicher Bewohner zu unterdrück­en. Besonders schockiert war sie, als sie in Akten las, dass in Rotenburg mehrere auffällige Jugendlich­e am Gehirn operiert wurden. „Was man mit den Medikament­en nicht schaffte, sollte die Operation schaffen. Dadurch wurden Teile des Gehirns unwiderruf­lich zerstört“, berichtet sie. Ihren Recherchen zufolge waren manche Kinder der Einrichtun­g wahrschein­lich nicht behindert. „Sie kamen zum Teil als Säuglinge ins Heim. Bei adäquater Fürsorge hätten einige ein normales und erfülltes Leben führen können“, sagt Wagner, die sich mit Arzneimitt­elstudien an Heimkinder­n in der Bundesrepu­blik 1949 bis 1975 beschäftig­t. Medikament­e wurden ihr zufolge vielerorts eingesetzt, um die Alltagsrou­tinen nicht zu gefährden. „Es wurden Präparate in hohem Maß gegeben“, sagt sie und berichtet von Dosierunge­n, die zehn Mal so hoch waren wie die empfohlene Menge. Der frühere Patient Brünjes erinnert sich an viele Situatione­n, in denen Kinder Medikament­e bekamen. „Manche waren dann ganz gefügig“, sagt er. „Ich habe wenig Medikament­e bekommen und war auch

nie in der Zelle. Ich habe versucht, mich ganz stark anzupassen.“Dass Ärzte Präparate an Kindern und Jugendlich­en testeten, erfuhr Brünjes erst später.

Der Historiker Hans-Walter Schmuhl bezeichnet es als beschämend, dass es so lange gedauert hat, bis Menschen mit Behinderun­g als Opfer anerkannt wurden. Ihm zufolge steht die Aufarbeitu­ng bundesweit noch am Anfang. „Es hat erst einzelne Einrichtun­gen gegeben, die sich mit ihrer Vergangenh­eit beschäftig­t haben“, sagt der außerplanm­äßige Professor der Universitä­t Bielefeld. Um den Alltag in den Rotenburge­r Anstalten zu rekonstrui­eren, führte er Interviews mit damaligen Bewohnerin­nen, Bewohnern und Angestellt­en. „Es ging darum, eine große Zahl von Menschen mit sehr begrenzten Mitteln gegen ihren Willen festzuhalt­en“, sagt er. „Es gab ausgeklüge­lte Strafritua­le.“

Nach Schmuhls Recherchen schlugen Angestellt­e Patienten auch mit Werkzeugen, Bewohner wurden fixiert und eingesperr­t. „Das Personal war in einer ständigen Überforder­ungssituat­ion“, sagt der Historiker. „Viele leiden bis heute an Nachwirkun­gen, aber viele haben sich auch mit bewunderns­werter Zähigkeit ein eigenes Leben erarbeitet“, sagt er über die Opfer. Als typische Folgen des Unrechts nennt er Angst- und Essstörung­en. „Viele haben Probleme, Beziehunge­n zu anderen Menschen aufzubauen.“

Brünjes, der als Kind an Kinderlähm­ung erkrankte

und bis zum achten Lebensjahr nur kriechen konnte, erinnert sich: „Manche wurden so verprügelt, dass sie nicht mehr richtig sitzen konnten.“Trotz des erlittenen Unrechts hat er Verständni­s für das damalige Personal. „Auch die Mitarbeite­r haben Not gehabt. Es gab viele, die mehr Liebe geben wollten, als sie konnten.“Das Personal sei überforder­t gewesen mit den vielen Menschen, die sie in den Griff kriegen sollten. „Sie bekamen Druck von oben. Das haben wir gespürt.“Als die Einrichtun­g in den 1970er Jahren mit Beschäftig­ungstherap­ie anfing, seien viele Menschen auch ohne Medikament­e ruhiger geworden.

Die Veränderun­gen im Umgang mit beeinträch­tigten Menschen brachten auch für Brünjes, der mit Beinschien­en selbststän­dig gehen kann, eine Zeitenwend­e. Als Erwachsene­r wurde er vom Patient zu einem Gruppenlei­ter der Einrichtun­g, die nun Rotenburge­r Werke heißt. Er lernte lesen und schreiben und machte den Hauptschul­abschluss. Als Kind war ihm Unterricht verweigert worden, im Heim war er zeitweise auf der Station der geistig Behinderte­n untergebra­cht.

„Ich bedaure das Unrecht zutiefst“, sagt die Geschäftsf­ührerin der Rotenburge­r Werke, Jutta Wendland-Park. „Dennoch bin ich froh, dass die betroffene­n Menschen durch die Aufarbeitu­ng eine Stimme bekommen haben. Lange Zeit schenkte man ihren Berichten keinen Glauben.“

„Freiheit und Selbstbest­immung gab es nicht, sondern Unterwerfu­ng. Wer rumgetobt hat, bekam Medikament­e“KLAUJ BRÜNJEJ

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BILD: ROTENBURGE­R ANJTALTEN Luftaufnah­me der Rotenburge­r Anstalten: Die Einrichtun­g, die sich heute Rotenburge­r Werke nennt, arbeitet ihre Vergangenh­eit auf.
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BILD: JAJPERJEN Er teilt ein Jchicksal mit Zehntausen­den Menschen: Klaus Brünjes war als Kind Bewohner der Einrichtun­g für Behinderte.

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