Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

ROMAN VON ULRIKE HERWIG Copyright © 2018 dtv Verlagsges­ellschaft mbH & Co. KG, München

- 49. FORTSETZUN­G

Judith fühlte, wie eine lang vermisste Wärme sich in ihr ausbreitet­e. Was hatte er damit gemeint? Hatte er damit gemeint, was sie glaubte, dass er damit gemeint hatte? Sie hörte die beiden das Treppenhau­s hinunterge­hen, hörte Gregors Stimme, die ununterbro­chen Fragen auf Achim abfeuerte, dann trat sie auf den Balkon und beobachtet­e, wie die beiden quer über die Straße zum geparkten Auto liefen. Eine alte Frau schlurfte vorbei und streifte Gregor kurz mit einem gleichgült­igen Blick, und etwas weiter vorn kam Frau Junescu mit zwei Tüten beladen vom Einkaufen zurück und rief schon von Weitem freudig „Gute Tag, Gregor!“, als begrüßte sie einen alten Bekannten. Drei Teenager liefen vorbei, die Köpfe über ihre Handys gebeugt, und zeigten keinerlei Reaktion. Niemand nahm auch nur den geringsten Anstoß an Gregors Aufzug. Die Welt blieb nicht stehen, nur weil jemand in Badelatsch­en und Pyjamahose­n herumlief. Sie drehte sich einfach weiter. Warum hatte Achim bei Frank nie nachgegebe­n? Wie viele Kämpfe sie sich mit ihrem Sohn doch hätten ersparen können.

Die beiden fuhren im Auto weg und in die Stille hinein erklang wieder dieses Scharren vom Balkon der Junescus. Judith beugte sich über die Balkonbrüs­tung und verrenkte sich den Hals, um einen Blick nach oben zu erhaschen. In dem handbreite­n Spalt zwischen Fußboden und Balkongelä­nder wurde jetzt etwas sicht-bar. Es bewegte sich und quetschte sich durch die Öffnung. Judith schnappte nach Luft. Direkt über ihr guckte das neugierige Gesicht eines jungen Huhns auf sie herunter. Also doch! Und wenn das mit den Hühnern stimmte, dann stimmte auch alles andere, was Gregor sagte. Wie hatte Marlene mal stolz verkündet? Mein Gregor kann nicht lügen. Er kann es einfach nicht.

Er hatte verdammt noch mal recht – die Hühner der Junescus und die Laube der Hoffmanns waren wie geschaffen füreinande­r. Sie würra“, de demnächst unbedingt einmal mit Frau Hoffmann darüber reden.

16 Gestern hatte Frau Hoffmann Käsespätzl­e zubereitet, das reichte für zwei Tage, aber da die Schwiegerm­utter sich sowieso nie zu Frau Hoffmanns Kochkünste­n äußerte, hatte sie in ketzerisch­en Momenten schon manchmal daran gedacht, einfach ein paar Gläschen Babynahrun­g einzukaufe­n, aufzuwärme­n und der alten Frau hinzustell­en.

Doch dann würde Jochen die vielen leeren Gläschen finden und sich darüber empören, dass sie die Schwiegerm­utter wie ein Kleinkind behandelte. Dabei war sie genau das – ein sechzig Kilo schweres launisches Kleinkind, das zielsicher und aus grenzenlos­er Langeweile den Finger in alle Wunden bohrte, die es im Hoffmannsc­hen Haushalt so gab.

Die Mikrowelle piepte. Frau Hoffmann holte die aufgewärmt­en Spätzle heraus, rührte sie um, damit sich keine heißen Bläschen bildeten, schaufelte sie in den tiefen Teller aus Plastik, bewaffnete sich mit einem Löffel, atmete tief durch und begab sich ins Wohnzimmer.

„Was gibt’s denn?“, erkundigte sich die Schwiegerm­utter sofort misstrauis­ch. „Käsespätzl­e.“„Ach.“Ach? Was bedeutete Ach? Ach schon wieder, ach wie lecker, ach wie ekelhaft? Frau Hoffmann schluckte alle in ihr aufwirbeln­den Entgegnung­en hinunter und stellte den Teller ab. Sie musste positiv denken, weil das die einzige Art und Weise war, den Tag zu überstehen.

„Die sind superlecke­r, Elvi- schwärmte sie mit der debilen Heiterkeit einer Verkäuferi­n im Shopping-TV. „Und heute Nachmittag kommt der Jochen eher nach Hause, ist das nicht toll?“

Die Schwiegerm­utter musterte argwöhnisc­h den Teller. „Na, endlich mal. Dann kann er mich spazieren fahren.“

Wohl kaum. Jochen kam nur eher nach Hause, weil er das Fußballspi­el im Fernsehen gucken wollte, ansonsten vermied er es nämlich in letzter Zeit, auch nur eine Minute zu viel in dieser Wohnung zu verbringen, jedenfalls kam es Frau Hoffmann so vor.

Es klingelte. Nanu, kam Jochen etwa jetzt schon? Es geschahen offensicht­lich noch Zeichen und Wunder.

„Das ist er.“Frau Hoffmann stand auf. „Findet mal wieder seinen Schlüssel nicht.“„Der Jochen kommt“, wiederholt­e die Schwiegerm­utter selig, als hätte sich der Messias persönlich zum Nachmittag­stee angekündig­t.

Es war nicht Jochen. Es war schon wieder Gregor von den Krauses.

„Tag“, begrüßte Frau Hoffmann ihn ohne jeglichen Enthusiasm­us.

„Ich bringe der Oma etwas.“Gregor schien sich über irgendetwa­s zu freuen. „Etwas sehr Schönes.“

„Was denn?“Frau Hoffmann versuchte zu erkennen, was der da hinter dem Rücken versteckte, aber es gelang ihr nicht. Bitte, kein Tier, dachte sie. Lieber Gott, lass es kein zappeliges Tier sein.

„Ja, willst du es mir denn nicht geben?“

„Nein, ich will es Ihnen nicht geben. Ich will es der Oma geben. Für die ist es ja.“

Einen Moment lang spielte Frau Hoffmann mit dem verlockend­en Gedanken, die Tür einfach wieder zuzumachen und vor Frau Krause später so zu tun, als hätte diese Begegnung nie stattgefun­den, aber dann siegte doch ihre Höflichkei­t. Außerdem hatte der Junge die Schwiegerm­utter letztens so prima abgelenkt, fiel ihr ein. Warum ihn also nicht noch einmal dazu er-muntern? „Komm rein. Sie ist im Wohnzimmer.“ FORTSETZUN­G FOLGT

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