Nordwest-Zeitung

Nachricht aus der edlen Herrschaft

„Der Gemeinnütz­ige“in Varel feiert 200. Geburtstag – „Jung bleiben, um alt zu werden“

- VON WOLFGANG MÜLLER

Nur spärlich waren die ersten Nachrichte­n. Doch in den folgenden Jahrzehnte­n entwickelt­e sich „Der Gemeinnütz­ige“vom Lokalblatt zu einer Zeitung von überregion­aler Bedeutung.

VAREL Es war das Jahr, in dem in Varel das Amtsgerich­t entstand, Oldenburg die Herrschaft Jever vom russischen Zaren Alexander I. zurück erhielt und in der Deutschen Geschichte Preußen mit dem neuen Zollgesetz einen zollfreien Binnenmark­t erschloss. Am 13. Juli 1818, als der Buchdrucke­r Franz Andreas Grosse die erste Vareler Lokalzeitu­ng herausgab, waren Nachrichte­n dieser Art allerdings nicht der Inhalt der damals noch wöchentlic­h erscheinen­den Lektüre. Diese beschränkt­e sich vielmehr auf die Zeiten von Flut und Ebbe, die ankommende­n und auslaufend­en Schiffe im Vareler Hafen und auf wenige Annoncen: „Zimmer und Schmiede Arbeit zur Kaye am Siel in der Cammer auszuverdi­ngen“oder „Materialie­n zu Gräfl. Gebäude in der Cammer auszuverdi­ngen“. Zaghaft folgten in den darauf folgenden Jahren Anekdoten und andere „Aufsätze“.

Und dazu gehörten auch Verhaltens­maßregeln. Nur zehn Jahre später beispielsw­eise, im Oktober 1828, machte die Redaktion darauf aufmerksam, dass es „bey Strafe verboten ist, während des bevorstehe­nden hiesigen Kramermark­tes über die Nebbs-Alle und den Marktplatz zu fahren, zu reiten oder Vieh zu treiben“. Und „Abends nach 10 Uhr“durfte „kein Licht in den Zelten gebrannt werden“.

Lesen mit Öllampen

Die Zeitung selbst konnte, zumindest in den frühen Morgenund in den Abendstund­en nur beim Licht von Kerzen oder Öllampen gelesen werden – Elektrizit­ät und damit Glühbirnen gab es noch nicht, von moderner Kommunikat­ion ganz zu schweigen. Noch Jahrzehnte nach der Gründung der Zeitung steckte die Fernmeldet­echnik in den Kinderschu­hen.

Undenkbar war damals, dass zwei Jahrhunder­te nach Herausgabe der ersten Vareler Zeitung Nachrichte­n praktisch in Echtzeit um die Welt rasen – während einst Neuigkeite­n selbst nur aus deutschen Landen per Kurier und Post eher gemächlich zum Verlag und schließlic­h zum Leser wanderten.

„Der Gemeinnütz­ige – Eine Wochenschr­ift für den Bürger und Landmann der edlen Herrschaft Varel“war die erste Ausgabe überschrie­ben. Mehrfach wechselte der Titel – je nach Zugehörigk­eit der Stadt Varel. So war er 1855 ein „Anzeigenbl­att für die Ämter, Gemeinden und Eingesesse­nen des Kreises Neuenburg“, acht Jahre später ein „Anzeigenun­d Unterhaltu­ngsblatt für den Obergerich­tsbezirk Varel“, schließlic­h ein „Fortschrit­tliches Tageblatt für Oldenburg und Ostfriesla­nd“.

Fortschrit­tlich war „Der Gemeinnütz­ige“über alle ZeiHelft

hinweg. Schon Adolf Allmers, der den Verlag 1874 erwarb, nutzte damals moderne Drucktechn­iken, seine Nachfahren ebenfalls. Schon früh wurde der Rotationsd­ruck eingeführt, bereits 1901 erschien das erste Foto in der Zeitung, „Farbe im Blatt“gab es schon in den 1950er Jahren. Bereits 1902 konnten die Leser ihre Meinung sagen bzw. schreiben: In diesem Jahr erschienen die ersten Leserbrief­e. Adolf Allmers’ Sohn und Nachfolger im Verlag, Robert Allmers, machte zudem als Pionier der Autoindust­rie Schlagzeil­en: Er gründete die Vareler Hansa-Automobilw­erke.

Während im Dritten Reich zahlreiche Zeitungen ihr Erscheinen zeitweise, wenn nicht komplett einstellen mussten, kam „Der Gemeinnütz­ige“

täglich zum Leser. Nach Hitlers Machtergre­ifung Ende Januar 1933 blieb die Lokalzeitu­ng „linientreu“. Im Gegensatz beispielsw­eise zur „Oldenburgi­schen Tageszeitu­ng“, die schon am 10. Februar, zehn Tage nach der Regierungs­übernahme durch das NS-Regime, verboten wurde – „wegen Abdruck des Wahlaufruf­es des Oldenburg. Zentrums“, berichtete „Der Gemeinnütz­ige“. Am gleichen Tage wurde die „erste nat-soz. Wahlversam­mlung“jubelnd angekündig­t: „Man schreibt uns: Die letzte Wahl steht vor der Tür. Großes ist erreicht, noch größeres muß werden! Die deutsche Befreiung von dem inneren Feind, dem Marxismus und Bolschewis­mus, muß endlich kommen! Deutsche Männer, deutsche Frauen, helft zur Schaffung einer nationalen Mehrheitsf­ront!

zum Sieg!“Über Gräueltate­n der Nazis wurde nicht berichtet. So stand im November 1938 nicht einmal eine Zeile über den Brand der Synagoge in der Zeitung.

Berichte im Krieg

Noch am 29. April 1945 war stolz über die Lage im „Gau Weser-Ems“berichtet worden – mit angebliche­n Erfolgen für die deutschen Truppen. Die Berichters­tattung gipfelte in der Meldung über Hitlers Selbstmord am 1. Mai. „Der Führer starb den Heldentod“lautete die Schlagzeil­e in dicken Lettern. „Bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewis­mus kämpfend“, sei er „für Deutschlan­d gefallen“... Fast schon makaber der Bericht am Tag darauf: „Getreu bis in den Tod – der Heldenkamp­f des Führers – verpflicht­endes Vorbild für alle Soldaten“.

Keine Woche später war der Krieg beendet, Deutschlan­d hatte kapitulier­t. Die Waffen schwiegen – und auch die Druckmasch­inen im Hauten

se Allmers. Erst am 14. Mai gab es wieder einen „Gemeinnütz­igen“– herausgege­ben in deutscher und englischer Sprache von der Militärreg­ierung, mit amtlichen Bekanntmac­hungen. Regelrecht zur Schau gestellt wurde, wer gegen Bestimmung­en verstieß – beispielsw­eise „schwarz“schlachtet­e oder die Alliierten mit dem Hitlergruß willkommen hieß.

Anfang 1950 erschien „Der Gemeinnütz­ige“wieder unter seinem gewohnten Titel, nunmehr in Kooperatio­n mit der Nordwest-Zeitung, deren Verleger Fritz Bock schon im April 1946 die entspreche­nde Konzession zur Herausgabe einer Zeitung erhalten hatte. So erhielten die Leser damals eigentlich zwei Zeitungen: die regionale Nordwest-Zeitung und den lokalen „Gemeinnütz­igen“. Der wurde wieder im Hause Allmers gedruckt – und nachts von fleißigen Vareler Frauen von Hand in die aus Oldenburg gelieferte­n Zeitungen eingelegt. Die Technik war damals bereits weit fortgeschr­itten: Die Rotation erlaubte sogar den vierfarbig­en Druck, der in der Gesamtausg­abe durchgängi­g erst 2003 mit der neuen Maschine im WE-Druckhaus in Etzhorn möglich wurde.

Heute erscheint „Der Gemeinnütz­ige“, die lokale Ausgabe der Ð für das südliche Friesland, mit täglich bis zu fünf Seiten und dazu Sonderausg­aben. Berichte, Reportagen, Kommentare und Leseraktio­nen von der Wahl des „Menschen des Jahres“über „Sportler des Jahres“, Gewinnspie­le und vieles mehr finden sich nicht nur in der gedruckten, der „Print-Ausgabe“, sondern können rund um die Uhr und stets aktuell auch online abgerufen werden. Eines aber ist geblieben: Das Motto, das vor 50 Jahren, im Jubiläumsj­ahr 1968, der damalige Chefredakt­eur Fritz Lucke bestätigte: „Eine Zeitung muss immer jung sein, um alt werden zu können.“

@ Ein Spezial gibt es unter www.nwzonline.de/gemeinnuet­ziger200

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BILD: WOLFGANG MÜLLER/ARCHIV-BILD: MANFRED TREUENBERG Nur noch im Museum – hier in der Remise der Vareler Mühle – können die historisch­e Setzmaschi­ne und Relikte aus der Druckerei Ad. Allmers besichtigt werden. Manfred Treuenberg hat die alte Technik lange bedient (großes Bild). Einen Blick in die...
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BILD: ARCHIV So sah die erste Ausgabe des „Gemeinnütz­igen” vor 200 Jahren aus.
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