Nordwest-Zeitung

Wie Russlands letzter Zar vor 100 Jahren starb

Martin Aust über den historisch­en Monarchenm­ord

- VON JOACHIM HEINZ

FRAGE: Herr Aust, vor 100 Jahren wurden Zar Nikolaus II. und seine Familie auf Geheiß des Staates umgebracht. Was weiß man über jene Nacht? AUST: Letzten Endes hat Lenin die Erschießun­gsaktion in Jekaterinb­urg angeordnet. Die Kommuniste­n haben, wie wir wissen, immer alles sehr genau dokumentie­rt. Der Vorgang ist also bestens belegt. FRAGE: Die Tscheka, die Staatssich­erheit, liquidiert­e die Familie am 17. Juli 1918 im Keller eines beschlagna­hmten Hauses. AUST: ... in dem Nikolaus und seine engste Entourage rund sechs Wochen lang festgehalt­en wurden. Die Leichen verscharrt­e man in einem nahe gelegenen Waldstück. FRAGE: Ursprüngli­ch sollte dem Zaren der Prozess gemacht werden. Im Sommer 1918 suchten die Bolschewik­i um Lenin dann die denkbar radikalste L@sung. Warum? AUST: Die Situation spitzte sich im Frühsommer immer weiter zu. Aus dem linken Lager wuchs die Kritik an den Bolschewik­i. Es gab Unruhen unter den Arbeitern. Die Reste der verfassung­sgebenden Versammlun­g drohten Lenin und seinen Genossen das Wasser abzugraben. Bewaffnete Verbände wie die Tschechosl­owakische Legion schlugen sich auf ihre Seite. Die Mörder des deutschen Botschafte­rs Wilhelm von Mirbach-Harff wiederum versuchten, das von Lenin ausgehande­lte Abkommen zwischen Russland und Deutschlan­d zur Beendigung

des Ersten Weltkriegs an der Ostfront, den Frieden von Brest-Litowsk, zu hintertrei­ben. FRAGE: Aine reichlich chaotische Lage... AUST: ... in deren Gefolge Lenin beschloss, den „Unsicherhe­itsfaktor“Nikolaus II. vorsichtsh­alber zu eliminiere­n. Dahinter standen also machttakti­sche Überlegung­en. FRAGE: Was wusste der Zar selbst von alledem? Angeblich reagierte er mit einem entgeister­ten „Was?“auf die Ankündigun­g, dass man ihn nun erschießen werde. AUST: Seit seiner Abdankung am 15. März 1917 hatte Nikolaus die Ereignisse um ihn herum mit stoischer Ruhe ertragen – ganz so, wie er erzogen worden war: als Gentleman, der in allen Lebenslage­n die Contenance zu wahren hatte. Wichtig für ihn war, dass er mit seiner Familie zusammen sein konnte. Politische Ambitionen verfolgte er keine mehr. Insofern dürfen wir davon ausgehen, dass ihn das Todesurtei­l tatsächlic­h überrascht hat. FRAGE: Im Jahr 2000 sprach die russisch-orthodoBe Kirche Nikolaus II. und seine Familie heilig – zusammen mit 1.000 weiteren Cpfern des bolschewis­tischen Terrors. Heute wird Präsident Wladimir Putin gern als der „neue Zar“bezeichnet. Arleben wir eine Art Devival der Domanows? AUST: Das kann ich nicht erkennen. Putin einen „Zar“zu nennen, ist wohl eher dem Bedürfnis vor allem westlicher Medien geschuldet, die Verhältnis­se in Russland auf einen allgemein verständli­chen Nenner zu bringen. Aber von Putin selbst sind derlei Vergleiche nicht bekannt. Die größten Verehrer von Nikolaus II. kommen aus monarchist­isch und religiös inspiriert­en Kreisen außerhalb der orthodoxen Amtskirche. FRAGE: Hat Zar Nikolaus II. echte Spuren in der russischen Geschichte hinterlass­en? AUST: Schwer zu sagen. Er steht im Schatten der Revolution­en von 1917 und des Aufstiegs des Kommunismu­s. Mit Nikolaus II. ging eine Ära unwiderruf­lich zu Ende. Für viele ist er nur „Zar Nikolaus der Letzte“.

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