Nordwest-Zeitung

ION DEN 50ERN BIS IN DIE 70ER

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Der kleine Junge wächst Ende der 60er Jahre im Ruhrpott auf, um ihn herum Ruß spuckende Kokereien und flackernde Stichflamm­en. Alle paar Wochen gibt es einen Ausflug aufs Land, aber am Horizont sieht er immer noch die Schornstei­ne. Dann kommt 1973 die erste Reise in den Süden – und das gleich mit dem Flugzeug. Irgendwann landet man in der Dunkelheit, per Bus geht’s zum Hotel, der Junge nickt ein. Am nächsten Morgen schlägt er die Augen auf und blickt auf einen schimmernd­en azurblauen Pool.

Ein derart intensives Reiseerleb­nis ist heute kaum noch vorstellba­r, weil Urlaube selbstvers­tändlich geworden sind. In der Nachkriegs­zeit war das anders: „Man hat für den Sommerurla­ub gelebt“, sagt Freizeitfo­rscher Horst Opaschowsk­i. Nur einmal im Jahr kam man weg, dafür sparte man elf Monate. Dadurch besaß der oft drei Wochen lange Urlaub einen „exotischen Kontrastch­arakter“.

Das erste Sehnsuchts­land nach dem Krieg war natürlich Italien, das klassische Auslandszi­el deutscher Bildungsre­isender. Jetzt aber waren es weniger die archäologi­schen Stätten, Kirchen und Kulturdenk­mäler, die die Touristen anzogen, jetzt kamen sie für Sonne, Strand und Flair. Schlager wie die „Caprifisch­er“oder „O mia bella Napoli“erzählten von diesem Ausbruch aus dem oft bleiernen Alltag in eine romantisch­e Gegenwelt. Meist fuhr man natürlich mit dem Auto nach Italien, noch in den 70ern war das der Normalfall. Dadurch hatte man ein ganz anderes Reisegefüh­l: Man musste erst einmal eine Distanz zurücklege­n, man näherte sich dem Ziel langsam, und dadurch wurde die Erwartung immer weiter gesteigert. Nach Italien etwa war man zwei bis vier Tage unterwegs. Stundenlan­ge Staus – ohne Klimaanlag­e im Auto – gehörten dazu.

In der Bundesrepu­blik entstand schon in der ersten Phase des Massentour­ismus eine Gegenbeweg­ung: Das Ziel der Alternativ­urlauber hieß Irland – inspiriert von Heinrich Bölls „Irischem Tagebuch“von 1957.

In der DDR beschränkt­en sich die Urlaubsmög­lichkeiten in den ersten JahrzehnIn­ten noch weitgehend auf landsziele wie die Ostsee oder die Mittelgebi­rge.

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