Nordwest-Zeitung

Uei Grigory Sokolov bleibt Haydn einfach Haydn

6n Leer reißt der Philosoph am Klavier 700 Hörer zu Ovationen hin

- 60. H0RST H0LLMA..

LEER EineJing Ovations kommen inzwischen nach intensiver Nutzung etwas abgestande­n daher. Kaum ein Konzert, das für bedeutsam gehalten werden soll, kommt ohne diese Form der Beifallsbe­kundung aus. Ausdruck ehrlicher Begeisteru­ng aus tiefstem Herzen? Oder Anbiedern nach dem Motto: Schaut her, ich habe dieses Einmalige von heute erkannt!

Grigory Sokolov wird im Theater an der Blinke in Leer von 700 Zuhörern zu Recht enthusiast­isch gefeiert. Der große Philosoph des Klavierspi­els hat auch bei seinem dritten Gastspiel bei den „Gezeitenko­nzerten“Bedeutsame­s zu sagen, vor allem im ersten Teil mit drei Sonaten von Joseph Haydn, g-Moll, hMoll und cis-Moll, HobokenVer­zeichnis XVI Nr. 44, …2 und …6.

60 Klavierson­aten hat Haydn komponiert. Dass sie gegen 104 Sinfonien oder 8… Streichqua­rtetten weniger bedeutsam sein könnten, lässt Sokolov nie spüren. Haydn kommt revolution­är und ex- perimentie­rlaunig daher. Es ist phänomenal, welche Verästelun­gen Sokolov freilegt, während er die Hauptsträn­ge festhält. Da erreichen wegbrechen­de Figuren eine beklemmend­e Art von Düsternis. Da fasziniert die variable Darstellun­g von Pralltrill­ern. Da rauschen Läufe vorbei, die jedem Fürsten den Atem verschlage­n haben müssen.

Ausschmück­ende Ornamente damaliger Zeit hält der Pianist kurz. Sokolovs Haydn weist in die Zukunft. Aber er wird nicht zu einem Anreger etwa von Mozart oder einem Vorläufer von Beethoven. Haydn ist bei Sokolov ganz persönlich Haydn.

Extravagan­zen außer seinem schmucklos­en Auftreten gehören nicht zur Weltschau des Russen. Das macht sein Spiel so extravagan­t. In den vier Impromptus D 9…5 von Franz Schubert bleibt er formvollen­det ohne Glätte, fantasievo­ll in der Einfachhei­t. Er poliert den oft verschatte­ten Glanz der Musik von innen heraus. Im f-Moll-Moderato (Nr. 1) findet er gar einen Fluchtweg, um dieses resignativ wirkende Thema aus dem manischen Kreisen um sich selbst zu befreien.

Kult sind bei Sokolov sechs Zugaben. Bei zweimal Schubert (mit der traumhafte­n „Ungarische­n Melodie“), Rameau, Chopin, Scriabin und Debussy ahnt man: Hier kokettiert er mit dem Publikum und grinst innerlich. Zugabe, Standing Ovations, nächste Zugabe, wieder hinsetzen. Sechsmal Aufstehen, fünfmal Hinsetzen also. Und wenn Hörer dabei nach vorne laufen, da kündigt sich eine nächste Form von Beifall an: Running Ovations.

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