Nordwest-Zeitung

Notstand unter anderem Namen?

7a treibt Präsident Erdogan den radikalen Umbau der Türkei voran

- VON CHRISTINE-FELICE RÖHRS

Am Tag der Abstimmung über das neue Anti-Terror-Gesetz der Türkei gab es keine Proteste mehr, und das sprach Bände. Das Gesetz, das einige Regelungen aus dem gerade abgelaufen­en, internatio­nal kritisiert­en zweijährig­en Ausnahmezu­stand fortschrei­bt, hatte als Entwurf noch viel Aufregung ausgelöst. Der deutsche Außenminis­ter warnte, es dürfe keinen „Ausnahmezu­stand durch die Hintertür“geben. Opposition­spolitiker wetterten, Menschenre­chtsorgani­sationen protestier­ten. Aber am Tag der Abstimmung selbst, am Mittwoch, taucht mehr als ein Drittel der Abgeordnet­en nicht einmal mehr auf.

Der Sprecher der pro-kurdischen Partei HDP, Ayhan Bilgen, erklärt den schwachen Auftritt vor allem der Opposition am Donnerstag so: Die Regierungs­partei AKP und ihr Partner, die MHP, hätten ja sowieso die absolute Mehrheit. „Es macht keinen Sinn mehr, ins Parlament zu gehen“, sagte Bilgen. Nur knapp einen Monat nach der Wiederwahl von Präsident Recep Tayyip Erdogan als Staatspräs­ident – diesmal an der Spitze nicht mehr eines parlamenta­rischen, sondern eines Präsidials­ystems

– macht sich Resignatio­n breit in der Opposition.

Das Gesetz lässt Gouverneur­en Teile ihrer Machtfülle aus dem Notstand, es weitet den Polizeigew­ahrsam aus und bereitet offenbar weitere Massenentl­assungen vor – die Handschrif­t des Präsidente­n, der seit dem traumatisc­hen Putschvers­uch von 2016 den „Kampf gegen den Terror“über alles stellt, ist unverkennb­ar. Diplomaten, Menschenre­chtler und Opposition­spolitiker warnen seit Monaten vor einer Ein-MannHerrsc­haft in der Türkei. An diesem Bild hatte sich auch die Debatte um Fußball-Nationalsp­ieler

Mesut Özil entzündet – wie kann es sein, dass der Mann einen Autokraten unterstütz­t? Özil hatte sich lächelnd mit Erdogan fotografie­ren lassen.

Markar Esayan, ein Kommentato­r der großen regierungs­nahen Zeitung „Sabah“, wirft dem Ausland am Donnerstag „selektive Blindheit und Ignoranz“vor. Die Türkei sei keine Diktatur. Das Sicherheit­sgesetz ist allerdings keine singuläre Erscheinun­g. Es kommt im Konzert mit einem radikalen Umbau des gesamten türkischen Staates nach dem Willen des Präsidente­n – und zwar mit viel schwerwieg­enderen Folgen für den Alltag der Türken als das Sicherheit­sgesetz allein. Hier geht es um Einfluss auf die Justiz, auf das Bildungssy­stem, Streitkräf­te, Wirtschaft und vieles mehr.

Als Vehikel nutzt Erdogan ein Bombardeme­nt von Dekreten, für die er die Zustimmung des Parlaments nun nicht mehr braucht. Seit seiner Vereidigun­g allein hat er innerhalb von nur zweieinhal­b Wochen 14 Dokumente veröffentl­icht, die auf mehr als 500 Seiten bis ins letzte Detail regeln, wer im Staat wo in Zukunft den Hut auf hat. Mehr sind zu erwarten. Oft schaufeln sie die Macht direkt auf den Schreibtis­ch des Chefs oder hinüber in teils neu geschaffen­e Büros und Räte, die dem Präsidente­namt unterstehe­n.

Mit Dekret Nummer drei beispielsw­eise darf Erdogan in Zukunft hochrangig­e Militärs selber ernennen oder feuern, außerdem die Chefs der Zentralban­k. Seit Dekret Nummer vier haben der Präsident und sein Schwiegers­ohn, Finanzmini­ster Berat Albayrak, die Macht, der Privatisie­rungsbehör­de Befehle zu geben, zuvor ein Rat, geführt vom Ministerpr­äsidenten und in seinen Entscheidu­ngen abhängig von Parlaments­zustimmung.

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DPA-BILD: OZBILICI Recep Tayyip Erdogan, Staatspräs­ident der Türkei, spricht vor dem türkischen Parlament.

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