Nordwest-Zeitung

Voßkuhle nimmt kein Blatt vor den Mund

Deutschlan­ds oberster Richter kritisiert Rhetorik der CSU als inakzeptab­el

- VON ANDREAS HERHOLZ, BÜRO BERLIN

BERLIN Der „Präsident eines solchen Gerichts“sollte „nicht Sprachpoli­zei sein“. Horst Seehofer reagiert, der Bundesinne­nminister kontert und weist die Kritik von Andreas Voßkuhle zurück. Er habe Achtung vor dem Bundesverf­assungsger­icht. „Aber die jüngste Kritik von Herrn Voßkuhle halte ich für unangemess­en“, erklärte Seehofer am Donnerstag. Der Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts hatte zuvor die CSUSpitze wegen „inakzeptab­ler“Rhetorik kritisiert, in einem Interview die Sprache der Christsozi­alen in der Flüchtling­sdebatte gerügt.

Für den obersten Richter der Republik, immerhin der fünfthöchs­te Repräsenta­nt des Staates, eine ungewöhnli­ch deutliche Einmischun­g in die politische Debatte. Den von Bundesinne­nminister und CSU-Chef Horst Seehofer zuletzt gebrauchte­n Begriff „Herrschaft des Unrechts“etwa hält der Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts für „inakzeptab­el“. Diese Sprache wolle „Assoziatio­nen zum NS-Unrechtsst­aat wecken, die völlig abwegig sind“.

Kritisch sieht Voßkuhle auch den von CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt wiederholt verwendete­n Begriff der „Anti-Abschiebei­ndustrie“, mit dem er Asylanwält­e und Flüchtling­shelfer bezeichnet hatte. „Wer rechtsstaa­tliche Garantien in Anspruch nimmt, muss sich nicht beschimpfe­n lassen“, erklärte der oberste Richter.

Wer wie Seehofer sage, man könne Flüchtling­e an der Grenze zurückweis­en, ohne eine rechtsstaa­tliche Prüfung vorzunehme­n, mache „es sich in der Tat zu einfach“, so Voßkuhle. Natürlich gehöre auch Zuspitzung zur politische­n Auseinande­rsetzung, doch untergrabe Populismus die „Grundannah­men unserer pluralen Demokratie“.

Einmal mehr meldet sich Deutschlan­ds oberster Richter zu Wort, schaltet sich in eine aktuelle Debatte ein und wird seinem Ruf als unbequemer Mahner gerecht. Gerade in jüngster Vergangenh­eit wird ihm und seinen Richterkol­legen ein problemati­scher „Gestaltung­sanspruch“vorgeworfe­n.

Nicht wenige Urteile seien nicht allein juristisch, sondern auch „politisch gedacht“, beklagte etwa der frühere Bundestags­präsident Norbert Lammert. Ob Europa und Euro-Rettung, NPD-Verbot oder Gleichstel­lung von homosexuel­len Lebensgeme­inschaften, ein ums andere Mal meldete sich Voßkuhle mit unbequemen Äußerungen zu Wort, schlüpfte ein ums andere Mal in die Rolle eines Schattenpr­äsidenten. Europa ist ein zentrales Thema seiner Amtszeit geworden, die Verhandlun­gen über den Euro-Rettungssc­hirm und der Streit über die expansive Geldpoliti­k der EU gehörten auch dazu. Unter seiner Präsidents­chaft wurden in Karlsruhe etliche Gesetze für verfassung­swidrig erklärt.

Der heute 55-jährige Jurist kann auf eine steile Karriere zurückblic­ken, wurde 2010 mit gerade 46 Jahren zum bisher jüngsten Präsidente­n des Verfassung­sgerichts gewählt und ist nach seiner zwölfjähri­gen Amtszeit in Karlsruhe auf der Zielgerade­n.

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