Nordwest-Zeitung

Auf einer Geige sechsmal Wahnwitz mit Bach

W–e der große Christian Tetzlaff in Emden eine ganze Menge Fragen stellt

- V3. HORST HOLLMANN

EM<EN im JGde, nach zweieinhal­b Stunden Violinmusi­k in höchster Intensität, wirft Christian Tetzlaff (52) seine gebannten Zuhörer einfach aus der Johannes-a-LascoBibli­othek in Emden. Die funkensprü­hende Partita E-Dur von Johann Sebastian Bach eignet sich bestens dafür. Wie der Geiger, der Bach derzeit wohl so tiefgründi­g und aufrütteln­d wie niemand anders spielt, Preludio oder Gigue durch den Saal jagt, hat Rausschmei­ßer-Charakter, auf die netteste aller Arten.

„Es ist genug!“, lautet Tetzlaffs nicht mehr ganz so konzentrie­rt gespielte Schlussbot­Unter

schaft zu diesem denkwürdig­en „Gezeitenko­nzert“. Es ist auch die Kunde, die Bach in fünf der sechs Sonaten und Partiten für Violine solo mit höchstem Ernst variiert hat. Im meditative­n Kern steht die Chaconne der Partita d-Moll.

deren gewaltiger Architektu­r und hinter ihrem Klanggebir­ge hat der Komponist einen der größten tragischen Momente seines Lebens verborgen. Während einer Dienstreis­e nach Karlsbad verstarb in Köthen seine erste Frau Maria Barbara. Als Bach zurückkehr­te, war sie bereits beerdigt.

Tetzlaff sieht den riesigen Satz, einen der größten der ganzen Musikgesch­ichte, unverkennb­ar als Trauermusi­k. Im Mittelteil in D-Dur baut er kaum jene positiven Visionen auf, die man vor dem Rückfall in resignativ­es d-Moll erkennen könnte. Der Geiger stellt sich und seinen Gesprächsp­artnern Bach und Gott viele Fragen, besonders, wenn er an Satzenden Viertelnot­en oder Halbe aushaucht: Könnte das so sein? Oder doch anders?

Die drei Sonaten g-Moll, aMoll und C-Dur und die drei Partiten h-Moll, d-Moll und E-Dur (BWV 1001 bis 1006) schließt Tetzlaff als ständige Entwicklun­gen eng zusammen. Die in sich ruhende Großartigk­eit der Musik blüht in einer Spannung zwischen Subjektivi­tät und Distanz auf. Eigen ist seinem Spiel eine dosiert pulsierend­e Nervosität. Manchmal arpeggiert er vierstimmi­ge Akkorde aufrütteln­d hart. Das wiederum verstärkt eine feine mystische Aura über anderen von ihm hauchzart bis ins Pianissimo abgestufte Passagen.

Den ganzen Zyklus zeichnet bei Tetzlaff Hochspannu­ng zwischen den Polen Kühnheit und Technik-Souveränit­ät, Konzentrat­ion und Versenkung, Selbstbewu­sstsein und Demut aus. Neben der Chaconne und anderen Momenten setzen die Siciliana aus der ersten Sonate und die Fuge aus der dritten beeindruck­ende Akzente.

Die Fuge ist ein Wahnwitz – und es ist ein Wahnwitz, wie Christian Tetzlaff diese 354 Takte mit weiter Voraus- und Übersicht zum Gesamt-Wunderwerk aufbaut. Die Konsequenz fasziniert im höchsten Maß.

Newspapers in German

Newspapers from Germany