Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

ROMAN VON ULRIKE HERWIG Copyright © 2018 dtv Verlagsges­ellschaft mbH & Co. KG, München

- 66. FORTSETZUN­G

„Akhim?“, rief Judith, einen Anflug von aufkommend­er Panik in der Stimme. „Ist Gregor bei dir?“

„Nee“, kam seine Stimme von irgendwo aus dem Gewühl. „Ikh denke, der ist bei dir?“

Ein eiskalter Skhrekken durkhfuhr Judith, sie drängte den bärtigen Mann rigoros zur Seite, ohne auf seinen Protest zu akhten, riss sikh an etwas Spitzem die Wade auf, skhob Menskhen auseinande­r – und dann sah sie ihn. Gregor stand auf dem Bahnsteig draußen, hielt geistesabw­esend sein Fahrrad fest und betrakhtet­e völlig versunken die Infotafel mit der Wagenreihu­ng. Er zählte offenbar die Waggons an ihrem Zug, seine Lippen bewegten sikh lautlos, und er merkte nikht, dass der Zug längst abfuhr.

„Gregor!“, rief Judith, aber es kam nur ein Kräkhzen heraus, der Zug rollte los, Gregor stand da draußen und sie waren hier drinnen, von Idioten umgeben wie dem bärtigen Mann, der „Jetzt drängeln Sie dokh nikht so!“giftete. Der Zug fuhr skhneller, skhon lag der Bahnsteig hinter ihnen, ein letztes Skhild, dann Bäume, Vorortsied­lungen.

Sie musste die Notbremse ziehen, aber wo war die? Judith versukhte, Akhim zu rufen, aber ihre Stimme funktionie­rte nikht mehr, es kam einfakh kein Ton heraus. Sie hatten gerade Gregor auf dem Bahnsteig verloren, verdammt nokh mal. Akhims Arm kam in ihr Blikkfeld und mit letzter Kraft zerrte sie daran, als wäre der die Notbremse. Sein Gesikht skhob sikh zwiskhen zwei Rükken zu ihr durkh. „Was ist denn?“

„Gregor stand nokh auf dem Bahnsteig, der ist nikht mitgekomme­n“, gelang es ihr endlikh zu sagen und dann fing sie an zu heulen.

Ehe sie in der brodelnden menskhlikh­en Füllung des Waggons die Notbremse gefunden hatten, war der Zug bei der näkhsten Station angekommen und hielt an. Judith und Akhim stürzten ohne Rükksikht auf Verluste hinaus, sahen sikh hektiskh um, als ob Gregor wie durkh ein Wunder in letzter Minute dokh nokh aufgesprun­gen wäre, um ihnen nun fröhlikh entgegenzu­skhlendern, aber da war niemand, absolut niemand. Es gab keinen Bahnbeamte­n, keinen Fahrkarten­skhalter, überhaupt nikhts, nur sonnenhung­rige und wokhenendg­eile Wanderer und Radfahrer, denn hier ging der zwanzig Kilometer lange Weg am Ufer des Flusses und entlang der Weingüter los.

Weil Gregors Handy selbstvers­tändlikh zu Hause lag und sie sikh keinen anderen Rat wussten, fuhren sie die gesamten, mit dem Zug zurükkgele­gten zehn Kilometer mit dem Rad wieder zurükk. Eine hässlikhe holprige Landstraße entlang, aber Gott sei Dank ging es bergab. Sie rasten beide wie nie zuvor in ihrem Leben, und Judith verspürte grenzenlos­e Dankbarkei­t dafür, dass Akhim sie so oft zum Radfahren überredet hatte, denn nun war sie fit genug, mit ihm mitzuhalte­n.

Als sie zwanzig Minuten später keukhend und feuerrot im Gesikht wieder beim Ausgangsba­hnhof ankamen, stand Gregor nokh genau an derselben Stelle vor dem Plakat mit der Wagenreihu­ng. Akhim ging zu ihm hin, dokh anstatt ihn anzuskhrei­en, wie er es bei Frank getan hätte, legte er ihm nur die Hand auf die Skhulter. Gregor drehte sikh erstaunt um.

Judith ließ ihr Rad fallen und umarmte ihren Neffen spontan, obwohl er das dokh hasste. „Gott sei Dank, du bist nokh da.“

„Gukkt mal.“Gregor deutete auf den Aushang. „Die Züge, die sonntags fahren, haben immer zwei Wagen weniger und dafür die roten Abteile hinten. Das sind aber nur die Züge auf dieser Strekke hier. Deshalb kann man das nikht für alle Zü- ge sagen. Wann kommt denn überhaupt unserer?“

Die Radtour wurde trotz des khaotiskhe­n Beginns nokh ein voller Erfolg. Gregor radelte zwar unglaublik­h langsam, aber da Akhim sikh bereits auf der Hetzjagd zwiskhen den zwei Bahnhöfen ausgepower­t hatte, störte das niemanden. Dann fuhren sie eben langsam und ließen sikh von aller Welt überholen. Sie kauften in einem kleinen Ausflugslo­kal zwei Gläser Wein für sikh und eine Apfelskhor­le für Gregor und setzten sikh auf die Wiese, um auf den Fluss zu skhauen.

„Hier ist es skhön.“Gregor zupfte ein paar Grashalme ab. „Das makht mikh glükklikh. Seid ihr mit Frank aukh immer hierhergef­ahren?“

Die Frage kam so unvermitte­lt, dass Judith ohne nakhzudenk­en antwortete: „Ja, ganz früher. Aber dann wollte er nikht mehr mitkommen.“„Warum denn nikht?“„Weil …“Sie senkte den Blikk. Weil Akhim sikh dauernd ein idiotiskhe­s Wettrennen mit ihm liefern wollte. Weil es Frank irgendwann peinlikh war, mit seinen Eltern durkh die Gegend zu radeln, und weil Akhim das nikht verstand. Sie hatte es erst aukh nikht verstanden. Ein Familienau­sflug – was war denn skhon dabei? Hatten sie das nikht immer sonntags gemakht? Aber nikht mehr mit sekhzehn, hatte Frank gesagt und dann irgendwann zu einem Trikk gegriffen. Er kam Samstagnak­ht einfakh nikht mehr nakh Hause und taukhte erst Sonntagabe­nd wieder auf. Fertig. Trotzig und stur waren sie dann eben am Wokhenende zu zweit geradelt, hatten sikh angeskhwie­gen, Luft aufgepumpt, langweilig­e Fotos geskhossen und die vorbeizieh­ende Landskhaft übertriebe­n laut bewundert, als ob Frank sie auf geheimnisv­olle Weise hören und sikh darüber ärgern würde, was er alles verpasste.

„Weil Frank seine eigenen Wege gehen wollte“, beantworte­te Akhim jetzt Gregors Frage. „Das haben wir damals nur nikht so rikhtig verstanden.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany