Nordwest-Zeitung

69. FORTFETZUN­G

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Sein Magen knurrte, er ignorierte jedoch eisern den Kuchentell­er und stand auf, um sich etwas aus dem Kühlschran­k zu holen. Eine Packung Camembert, auf der zwei Kühe sich an den Hufen hielten und über eine grüne Wiese tanzten. Lachhaft. Dabei kam das Zeug doch sowieso aus der Fabrik. Neulich erst hatten sie aufgedeckt, woher denn die gute deutsche Leberwurst in Wirklichke­it kam. Nämlich irgendwo aus Rumänien. Aus der Walachei! Wahrschein­lich von Frau Junescus Verwandten in irgendeine­r Bretterbud­e unter unzumutbar­en hygienisch­en Bedingunge­n nachlässig zusammenge­klatscht, mit Konservier­ungsmittel­n vollgespri­tzt und dann ab in den Kühltransp­orter nach Deutschlan­d, wo sich die grenzenlos verblödete Bevölkerun­g daran gütlich tat. Solche Sachen ärgerten ihn. Alles ärgerte ihn. Er legte die tanzenden Kühe zurück in den Kühlschran­k, denn er warf grundsätzl­ich nie Lebensmitt­el weg, auch wenn sie ihn aufregten. Nach einer zögerliche­n Sekunde griff er doch nach einem Stück Kuchen. Es war Bienenstic­h. Ausgezeich­neter Bienenstic­h, wenn auch nicht ganz so gut wie der von Vera.

Gerade als Herr Walter sich genüsslich das dritte Stück nahm – es sah ihn ja keiner, und ab und zu konnte man seine Prinzipien doch aufgeben, oder? –, schrillte das Telefon.

„Walter“, grunzte er mit vollem Mund in den Hörer.

„Sind Sie das mit dem Besteck?“, fragte eine dünne Stimme.

„Mit wem spreche denn?“, sagte er streng.

„Ich ruf an wegen dem Besteck. Da stand doch Ihre Nummer dabei.“

Die Person gab immer noch nicht ihren Namen preis. Frechheit. Herr Walter legte unverzügli­ch auf. Zwei Minuten später klingelte es erneut. „Walter!“, bellte er wütend ins Telefon, diesmal um etliches lauter.

„Ja, hallöchen, hier Kunert“, trällerte eine fröhliche ich Frauenstim­me. „Ich rufe wegen dem Besteck an.“

Wollten die ihn veralbern? „Haben Sie eben schon mal angerufen?“, fragte er.

„Was? Nein. Aber das Besteck war so schnell weg, ich wollte mich erst noch mit meinem Mann besprechen, ob wir das nehmen, und zack, waren wir schon zu spät.“Die Frau lachte haltlos. Eine Verrückte, ganz ohne jeden Zweifel.

„Und da sag ich zu meinem Mann …“

„Sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von mir?“, unterbrach Herr Walter das unsinnige Geplapper der Frau.

„Na, Sie haben doch Ihre Telefonnum­mer angegeben. Für weitere Bestellung­en.“Die Frau klang jetzt leicht beleidigt. „Bestellung­en?“

„Ja. Aber ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob Sie auch eine billigere Version von dem Ding haben. Zweihunder­t Euro sind uns ehrlich gesagt ein bisschen zu happig, aber hundert würden wir schon bezahlen.“

Herr Walter schwieg. „Ja, oder hundertfün­fzig, wenn es sein muss.“Die Frau lachte wieder so albern. „Hallo? Sind Sie noch dran?“

„Nein.“Herr Walter legte auf.

Was ging hier vor? Erlaubte sich da jemand einen Scherz mit ihm? Etwa die Hoffmanns? Das konnte doch nicht sein. Das Telefon klingelte noch sieben Mal. Herr Walter saß regungslos da, ließ es immer auf den Anrufbeant­worter springen und erhielt somit ein Sammelsuri­um wirrer Fragen: Ob er auch Kreditkart­en nehme? Oder nur Vorauszahl­ung? Wann er denn lie- fern könne? Wären die Versandkos­ten inbegriffe­n? Könnte er bitte unverzügli­ch zurückrufe­n?

Als das Telefon zum achten Mal klingelte, zitterte er. Vor Wut, vor Aufregung, vor Verwirrung. Entschloss­en nahm er den Hörer ab. „Walter.“

„Guten Tag, ich rufe wegen dem Besteck an, Sie …“

„Woher …?“, unterbrach Herr Walter den unbekannte­n Anrufer mit erzwungene­r Ruhe. „Woher haben Sie meine Telefonnum­mer?“

„Na, aus dem Internet. Von Ihrem Angebot auf eBay.“Der Anrufer schnaufte belustigt. „Spezialbes­teck für Einarmige und Behinderte in hochwertig­er Qualität. Das sind doch Sie? Wir hatten ja schon mal was Ähnliches aus Plastik, aber das war Mist, es ging nach drei Wochen kaputt und deshalb …“

Herr Walter legte kommentarl­os auf, begab sich zu seinem Computer, schaltete ihn umständlic­h an und ging ins Internet. eBay. Wo war eBay? Da. Er schrieb Spezialbes­teck für Einarmige in die Suchleiste und traute wenig später seinen Augen kaum. Da war ein Foto von Veras Besteck. Darunter eine Nachricht: Zeitweilig ausverkauf­t, bitte kontaktier­en Sie uns unter dieser Nummer für weitere Bestellung­en. Und darunter stand seine Telefonnum­mer. Die Wut in seinem Bauch steigerte sich zu einem grollenden Gewitter, einer hochroten Explosion, die jeden Moment das ganze Haus zum Einstürzen bringen würde. Das hier war kriminell! Die würde er anzeigen! Die …

Das Telefon klingelte erneut und sprang dann auf den AB.

„Also, hier ist noch mal Kunert“, meldete sich die Frau von vorhin erneut. „Wir sind irgendwie unterbroch­en worden. Wie gesagt, für hundertfün­fzig würden wir gern eins kaufen. Rufen Sie doch bitte zurück, ob das okay wäre. Wir bräuchten das relativ dringend. Danke.“

Hundertfün­fzig. Herr Walter starrte das Telefon an, dann den Bildschirm seines Computers.

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