Nordwest-Zeitung

Besiegte probieren Neuanfang

Vor 70 Jahren wurden in Bayern )rundlagen des )rundgesetz­es gelegt

- VON MARTINA SCHEFFLER

Im

blütenweiß­en Hemd und dunkelblau­en Jackett steht Gerhard Waschin in einem Raum mit Blick auf den Chiemgau. „Was hat die Sache beschleuni­gt? Das Wetter und die Mücken!“

Die Sache – das ist der Verfassung­skonvent Herrenchie­msee, der vor 70 Jahren im Sommer 1948 auf der kleinen Insel im „bayerische­n Meer“abgehalten wurde. Relativ unbemerkt von der Öffentlich­keit und misstrauis­ch beobachtet von der großen Politik trafen sich dort vom 10. bis 23. August Vertreter der westdeutsc­hen Länder, um Grundlagen für eine Verfassung zu erarbeiten, die dem besiegten Land, das einmal das Deutsche Reich war, einen juristisch­en Neustart ermögliche­n sollte.

An einem Sommertag

Und wie war es im August? Heiß, und die Mücken surrten, berichtet Waschin. Kein Ort, um lange zu verweilen, trotz der idyllische­n Lage fern von Kriegstrüm­mern, und so wollten viele schnell fertig werden.

Waschin führt fast ein Menschenle­ben später, ebenfalls an einem Sommertag, eine Gruppe Geschichts­lehrer durch die Ausstellun­g im Augustiner-Chorherren­stift, wo 1948 getagt wurde. Der Raum, einst das Speisezimm­er von König Ludwig II., ist original erhalten, und anhand der Sitzordnun­g, die ausliegt, sieht man, wer sich damals um die Verfassung für die noch gar nicht existieren­de Bundesrepu­blik stritt. „Was hat man genommen?“, fragt Waschin in den holzvertäf­elten Raum hinein. „Man hat alte Nazis genommen.“

In der Tat saßen damals Männer, die das NS-Regime unterstütz­t hatten, wie der Staatsrech­tler Theodor Maunz, neben KZ-Pberlebend­en wie Hermann Brill. Der Jurist, ehemaliger SPDReichst­agsabgeord­neter und entschiede­ner Gegner Hitlers, führte während des Konvents ein Tagebuch, in dem er seine Mitstreite­r oder vielleicht doch eher Widersache­r beschrieb.

Carlo Schmid, damals Stellvertr­etender Staatspräs­ident und Justizmini­ster von Württember­g-Hohenzolle­rn, erscheint darin „wie Moby

Dick, der gern Kapitän Ahab morden möchte“, weil Gastgeber Adolf Pfeiffer, Leiter der bayerische­n Staatskanz­lei, der Versammlun­g das Etikett „Verfassung­skonvent“aufdrückte.

Der Auftrag für diese Zusammenar­beit sei nämlich gar nicht so klar gewesen, sagt Walther Michl, Verfassung­srechtsexp­erte und Akademisch­er Rat an der Münchner Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t. In der britischen Besatzungs­zone etwa habe man kein politische­s Mandat für die Versammlun­g gesehen, in der amerikanis­chen und der französisc­hen dagegen hätten Vertreter wie Schmid auf politische Entscheidu­ngen gedrungen. Michl wertet die Ergebnisse des Konvents, die in wichtigen Teilen vom Parlamenta­rischen Rat in das Grundgeset­z aufgenomme­n wurden, als „sehr bedeutende

Grundlage“. Der Rat, mit Konrad Adenauer als Präsident, begann seine Tagung nur neun Tage nach Herrenchie­msee. Wesentlich­e Bereiche, die das Grundgeset­z kennzeichn­eten, seien „in Herrenchie­msee aufs Gleis gesetzt“worden, erläutert Michl.

Furchtbare Erfahrunge­n

Neu für eine deutsche Verfassung und in Herrenchie­msee bereits vorgeschla­gen worden sei, dass die Verfassung mit dem Grundrecht­steil beginnt – sehr maßgeblich­en Einfluss habe der KZ-Pberlebend­e Brill darauf gehabt –, dass ein Bundesverf­assungsger­icht eingericht­et wird, das Verstöße gegen die Verfassung ahnden kann, zudem die Möglichkei­t eines konstrukti­ven Misstrauen­svotums, die reduzierte Stellung des Bun- despräside­nten (Michl: „kein Ersatzkais­er mehr, eher eine Ersatzquee­n“), und die Ewigkeitsk­lausel, die manche Bestimmung­en des Grundgeset­zes für unaufhebba­r erklärt. Dahinter stehe die Annahme, dass es auch verfassung­swidriges Verfassung­srecht geben könne, so Michl – die furchtbare­n Erfahrunge­n aus der NS-Zeit standen hinter vielen Vorschläge­n.

Knausernb eim Trinkgeld

Umstritten war auch, welches Ausmaß der Föderalism­us haben sollte. Der Bayer Pfeiffer hat auf eine starke Länderposi­tion geachtet, sagt Michl. Ein Punkt, der auch ins Grundgeset­z einging, hat sich nach Michls Ansicht nicht bewährt: die Tatsache, dass sich der Bundestag nicht selbst auflösen kann. Der Kanzler muss erst die Vertrauens­frage stellen und diese negativ beantworte­t werden, damit Neuwahlen möglich sind. „Es hat sich eine unehrliche Variante eingeschli­chen“, sagt Michl – wie bei Helmut Kohl 1982, als er Neuwahlen nach der Ablösung von Helmut Schmidt als Bestätigun­g seiner Politik erreichen wollte.

Gästeführe­r Gerhard Waschin führt seine Gruppe weiter, erzählt von geizigen Konventtei­lnehmern. Die mussten nämlich für eventuell mitgereist­e Gattinnen selbst zahlen. „Da haben die ganz schön geknausert am Trinkgeld.“

Seit Anfang 2018 führt Waschin unter dem Motto „Verfassung­sinsel Herrenchie­msee“vor allem Erwachsene durch die Ausstellun­g. Polizeisch­üler, Juristen, Lehrer. „Das wird gut angenommen.“Vielleicht trägt das Jubiläum dazu bei, denn die Ausstellun­g selbst existiert schon 20 Jahre und „ist eigentlich wenig beachtet worden“. „Kaum einer weiß noch, dass dort innerhalb von 14 Tagen das Grundgeset­z entstanden ist“, sagte auch Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier 2017 über Herrenchie­msee.

Die Erinnerung soll man Michls Ansicht nach aber aufrechter­halten. „Es wäre gut, daran zu erinnern, dass die Dinge, die das Grundgeset­z besonders machen, in Herrenchie­msee erarbeitet wurden“– dazu zählt der Jurist das Bundesverf­assungsger­icht. „Das könnte man stärker in die Erinnerung­skultur aufnehmen.“

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BILD: DPA Hier war es: Im bayerische­n Herrenchie­msee blickt Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ins Verfassung­szimmer des Verfassung­smuseums im Chorherren­stift

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