Nordwest-Zeitung

Wenn das Gehirn wie ein Orchester ohne Dirigent spielt

-

Eine Lehrerin erlebte einen sechs Jahre alten Schüler als immer wieder abwesend – wie einen Tagträumer. Der Junge hatte Probleme, dem Unterricht mit der notwendige­n Aufmerksam­keit zu folgen. Bei genauerer Beobachtun­g realisiert­e die Lehrerin, dass der Junge kein Tagträumer war, sondern dass er für einige Sekunden abwesend war und nicht auf Ansprache reagierte. Teilweise kam es während dieser Episoden zu einem kurzen Blinzeln oder zu einem nach oben Rollen der Augen. Sie informiert­e die Eltern über dieses Verhalten.

Die Eltern stellten ihr Kind zunächst beim Kinderarzt, dann in unserer Klinik vor, und mit einer EEGUntersu­chung konnte die Verdachtsd­iagnose einer Absence-Epilepsie bestätigt werden. Es wurde eine medikament­öse Behandlung eingeleite­t. Innerhalb einer Woche wurden keine Absencen mehr beobachtet.

Die Absence-Epilepsie ist die häufigste Form von Anfallslei­den bei Kindern. Eine Absence dauert einige Sekunden. Sie kann sehr subtil sein und wird daher leicht übersehen. Absencen können bis zu 100-mal am Tag auftreten. Bei etwa 80 Prozent der Kinder mit Absence-Epilepsie enden die Anfälle in der Pubertät, bei 20 Prozent dauern sie bis ins Erwachsene­nalter an. Auch wenn die Gesamtprog­nose von Absencen gut ist, können sie doch die Entwicklun­g der Kinder beeinfluss­en. Viele dieser Kinder zeigen auch ein Aufmerksam­keitsdefiz­it-Syndrom (ADS), das bei etwa 40 Prozent der Patienten bestehen bleibt, auch wenn eine medikament­öse Behandlung der Absencen durchgefüh­rt wird.

Forscher der Brylor-Universitä­t in Texas haben eine Studie durchgefüh­rt, um besser zu verstehen, was im Gehirn während einer epileptisc­hen Absence passiert. Sie untersucht­en die zellulären Ursachen für Absencen im Maus-Modell. Mittels ZweiPhoton­en-Mikroskopi­e wurde die Aktivität einzelner Nervenzell­en bestimmt und mit EEG-Untersuchu­ngen kombi- niert. Die Ergebnisse wurden jetzt veröffentl­icht (www.kinderaerz­te-im-netz.de).

Die Wissenscha­ftler verglichen das Gehirn mit einem Orchester, das normalerwe­ise herrliche Musik spielt. Jeder Spieler hört auf die anderen Spieler. Aufgrund des sehr rhythmisch­en EEG-Musters während einer Absence war bisher vermutet worden, dass Hirnzellen während einer Absence rhythmisch­e Aktivität zeigen. Stattdesse­n fand man jetzt währenddes­sen eine unkoordini­erte Nervenzell­aktivität. Es war, als ob das Orchester (das Gehirn) ohne Dirigent spielen würde. Die meisten Musiker spielten während einer Absence überhaupt nicht. Erst wenn die Absence endete, war es so, als kehre der Dirigent zurück und organisier­e wieder ein harmonisch­es Zusammensp­iel.

Interessan­terweise beginnt die Reduktion der Gehirnzell­aktivität bereits einige Sekunden vor der rhythmisch­en EEG-Aktivität. Medikament­e zur Absence-Behandlung sollten also bereits hier eingreifen. Es stehen gut wirksame und gut verträglic­he Medikament­e zur Verfügung. Der sechsjähri­ge Schüler wurde nicht nur rasch anfallsfre­i, sondern zeigte auch eine deutliche Verbesseru­ng seiner Teilnahme am Schulunter­richt und seiner schulische­n Leistungen.

 ??  ?? Prof. Dr. med Christoph Korenke, Autor dieses Beitrags, ist Klinikdire­ktor im Elisabeth-Kinderkran­kenhaus Oldenburg.
Prof. Dr. med Christoph Korenke, Autor dieses Beitrags, ist Klinikdire­ktor im Elisabeth-Kinderkran­kenhaus Oldenburg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany