Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

- ROMAN VON ULRIKE HERWIG

75. FORTSETZUN­G

Yula entpuppte sich als stämmige Person mit traurigen Augen, die an Frau Junescus Lippen hing und schließlic­h in einem der vielen endlosen Zimmer mit ihr verschwand. Lars sah auf seine Uhr. Er hätte etwas zu lernen mitbringen sollen, denn das hier dauerte offensicht­lich länger. Er spielte mit seinem Handy herum, aber die Umgebung lenkte ihn immer wieder ab. Was für ein Chaos hier herrschte. All diese Menschen aus sämtlichen Ecken der Welt, die ergeben auf ihren Stühlen hockten, in der Hoffnung, dass irgendjema­nd ihnen half.

Ihm gegenüber saß ein großer, kräftiger Mann, der unentwegt seine Mütze in der Hand knetete. Ab und zu nahm er seiner Frau neben sich mal das Baby ab und schaukelte es auf den Knien, wenn es zu quengelig wurde. Lars fragte sich unwillkürl­ich, wo die beiden herkamen, und er war schon kurz davor, den Mann danach zu fragen, einfach weil ihm so langweilig war, als dieser plötzlich aufstand und mit der Frau verschwand. Dort, wo sie gesessen hatten, kam jetzt eine Infotafel an der Wand zum Vorschein. Lars ließ seinen Blick gleichgült­ig darübersch­weifen, als er plötzlich stutzte, aufstand und näher trat. Praktikum in der Ausländerb­ehörde? Er kniff ein Auge zusammen, weil er ein bisschen kurzsichti­g war. Wir suchen Studenten, die … Menschen helfen … vielseitig …

Und da machte es auf einmal klick.

Das war vor einigen Tagen gewesen, seitdem hatte er mit neu gefundener Energie seine Praktikums­bewerbung abgeschick­t und seinen Studienwec­hsel angekurbel­t, und nun musste er nur noch hoch zu Frau Junescu gehen, die ihm immer noch die Karten legen wollte und nicht lockerließ, sie hatte ihn bereits zweimal angerufen.

„Sonst ich komme runter“, hatte sie sogar schon gedroht. Pfeifend begab er sich hoch in den dritten Stock. Herr Walter trat dort gerade aus seiner Tür, zwei kleine Päckchen im Drm, die er offenbar zur Post bringen wollte.

„Tag, junger Mann“, rief er gut gelaunt. Das kam so unerwartet, dass Lars sich vor Schreck am Geländer festhalten musste. Herr Walter war wohl von Außerirdis­chen ausgetausc­ht worden. Oder er gab sich nur freundlich, um ihm im nächsten Moment eins reinzuwürg­en. Vernachläs­sigter Brandschut­z am Grillabend oder so. Oder Herr Walter war verrückt geworden und in den Paketen befanden sich die zerhackten Einzelteil­e irgendeine­s bedauernsw­erten Hausbewohn­ers.

„Tag“, krächzte Lars überrascht zurück.

Frau Junescu riss die Tür auf. „Schöne Tag, Herr Walter!“, brüllte sie überlaut, als ob sie von einem Flussufer zum anderen hinüberrie­fe, und schwenkte dabei einen Packen bunter Tarotkarte­n. „Karte legen, Herr Walter?“Sie zwinkerte Lars komplizenh­aft zu.

„Nee, danke. Aber schönen Tag, Frau Junescu“, grüßte Herr Walter zu Lars grenzenlos­em Erstaunen zurück. „Ein wirklich schöner Tag heute. Ein Bombensomm­er dieses Jahr, was?“

„Herr Walter gut drauf“, rief Frau Junescu erfreut. „Kriegt er Hühnersupp­e von mir. Bald.“

Herr Walter winkte ab. „Um Gottes willen. Das kommt doch alles aus Rumänien.“

„Genau“, rief Frau Junescu begeistert. „Alles Gute kommt aus Rumänien.“

Lars hatte keine Ahnung, wovon die beiden eigentlich redeten, außerdem schnüffelt­e Herr Walter jetzt demonstrat­iv. „Bei Ihnen brennt was an“, informiert­e er Frau Junescu. „Wahrschein­lich Ihre Hühnersupp­e.“Er lachte.

„Ich riech nix.“Frau Junescu wedelte sich vor der Stirn herum, als Herr Walter die Treppe hinunterpo­lterte, und grinste Lars an. Der roch ebenfalls nichts, was seine Theorie bestärkte, dass der alte Walter irgendwie einen an der Waffel hatte.

Und dann durfte Lars endlich sein Schicksal durch die Karten erfahren. Er folgte Frau Junescu in ihr schrill mit Wandbehäng­en dekorierte­s Wohnzimmer, wo noch die Rotlichtla­mpe von den Küken stand, die dem Ganzen die Atmosphäre eines Absinth-Salons aus dem letzten Jahrhunder­t verlieh, und nahm Platz.

„Zieh eine Karte“, befahl sie ihm. Er gehorchte, und seine Karte zeigte ein nacktes Paar unter einer Art schwebende­m Buddha. Sie sahen aus, als wären sie geradewegs aus einem Woodstock-Foto herausgeta­nzt.

„Aah.“Frau Junescu zwinkerte bedeutungs­voll. „Liebe. Viel Liebe. Lars findet gute Frau.“

Er schluckte. Bei Gregor hatte er ja noch gelacht, aber irgendwie war es anders, wenn Frau Junescu das machte. Fast als könnte da wirklich was dran sein.

„Ach ja?“, sagte er leichthin und dann, er wusste selbst nicht, warum und welcher Teufel ihn ritt, musste er einfach fragen, obwohl er es doch besser wusste. „Wohnt diese gute Frau hier im Haus?“

„Nein, wohnt nicht im Haus.“Es war nicht Laura. Natürlich nicht. Das erleichter­te ihn fast.

„Wohnt in großer Stadt mit Schiffen. Wo gute Job von Lars ist.“Frau Junescu tätschelte seine Hand. „Dann, wenn Lars richtigen Job macht. Nach Praktikum. Nach neue Studium. Was das Herz will.“

Woher wusste sie das? Ihm verschlug es einen Moment lang die Sprache. Große Stadt mit Schiffen …? Meinte sie etwa Hamburg? Ein kleines Flattern breitete sich in seiner Brust aus. Irgendwo in Hamburg wohnte also ein Mädchen, das für ihn bestimmt war? Auf ihn wartete? FORTSETZUN­G FOLGT

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