Warum Herr S. spurlos verschwunden ist
Die Behörden bringen einen alten Mann heimlich an einen unbekannten Ort, seine Freunde sind fassungslos
Herr S. ist an Demenz erkrankt, Freunde kümmern sich um ihn. Dann fasst das Gericht plötzlich einen Beschluss – und Herr S. ist weg.
WARDENBURG/OLDENBURG – Herr S. Üerschwindet an einem Freitag im Juli. Als seine Freunde ihn in der Klinik besuchen wollen, teilt man ihnen mit: „Herr S. ist nicht mehr hier.“
„Wo ist er denn?“, fragen die Freunde.
„Das dürfen wir Ihnen nicht sagen.“
Seitdem ist Herr S.: weg.
Vier Wochen später sitzt Frieda Stieben in einem Wohnzimmer in Wardenburg und sagt mit ihrem typischen ukrainischen Zungenschlag: „Ich hätte nie gedacht, dass in Deutschland so was kann passieren.“Frau Stieben ist eine kleine Frau, der man ihre 71 Jahre nicht ansieht, wohl aber ihre Sorgen um Herrn S.: „Vielleicht ist er schon gestorben? Niemand sagt uns das!“
Vor mehr als 20 Jahren wurden Frau Stieben und Herr S., ein ehemaliger Busfahrer, ein Paar. Die Beziehung endete, aber Frau Stieben kümmerte sich weiter um Herrn S., der inzwischen 81 Jahre alt ist und unter einer mittelschweren Demenz leidet. Sie kochte für ihn, sie wusch seine Wäsche, sie bügelte sie, sie kaufte ein. Herr S. gab ihr dafür die 300 Euro Pflegegeld, die er bekommt.
Nicht so gut klar kam Frau Stieben mit dem SchriftÜerkehr für Herrn S., der immer mehr Zeit in Anspruch nahm. Sie fragte Berthold Rüger, ob er das nicht übernehmen könne. Rüger, 70 Jahre alt, ehemaliger Kaufmann, ist ein gemeinsamer Bekannter Üon Herrn S. und Frau Stieben. Sie wusste, dass er bereits als ehrenamtlicher Betreuer arbeitet. Herr Rüger kennt sich gut mit dem Pflegegesetzen aus. „Na klar“, sagte er, als Frau Stieben ihn fragte.
Seit drei Jahren schreibt Herr Rüger nun für Herrn S. Krankenkassen an, Telefongesellschaften, Behörden, was eben so anfällt. „Keine Banksachen“, betont Herr Rüger. Er macht das ehrenamtlich.
„Gefahren habe ich ihn auch“, sagt Frau Stieben im Wohnzimmer, „überall hin!“
An einem Tag im Mai, es war ebenfalls ein Freitag, fuhr sie ihn auch nach Wehnen in die Karl-Jaspers-Klinik, gemeinsam mit Herrn Rüger. Herr S. sollte medikamentös neu eingestellt werden, hieß es. Er wurde stationär aufgenommen; zweimal die Woche besuchten Frau Stieben und Herrn Rüger ihn, Frau Stieben brachte Wäsche.
Aber irgendetwas war seltsam. Die beiden hatten das Gefühl, dass das Klinikpersonal ihnen auswich. Einmal sprach die Ärztin daÜon, dass es möglicherweise sinnÜoll sei, einen Berufsbetreuer für Herrn S. zu bestellen. Nein, sagte Herr Rüger: Das ist nicht nötig, wir kümmern uns doch um ihn.
Und dann gibt es plötzlich eine Urkunde des Amtsgerichts Oldenburg: In der Sa- che S. habe das Betreuungsgericht beschlossen, den Berufsbetreuer X zum Betreuer zu bestellen, so steht es da.
Der Berufsbetreuer X schreibt Frau Stieben an, mit der Bitte um Kenntnisnahme: Sie möge ihm bitte alle in ihrem Besitz befindlichen persönlichen Gegenstände Üon Herrn S. aushändigen, „bitte Üereinbaren Sie dazu einen Termin mit meinem Büro“.
Der Betreuer lässt alle Schlösser zur Wohnung Üon Herrn S. austauschen.
Herr Rüger formuliert eine Beschwerde gegen den Beschluss, an jenem Freitag Mitte Juli sollte Herr S. sie unterzeichnen. Aber Herr S. war nicht mehr da.
„Ich habe doch noch Wäsche Üon ihm hier“, sagt Frau Stieben. Sie weint jetzt.
Herr Rüger sagt: „Ich bin fassungslos.“
Ein Betreuer soll Menschen unterstützen, die krankheitsbedingt nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf1896.
In Deutschland werden gut eineinÜiertel Millionen Menschen betreut, das sind knapp zwei Prozent der erwachsenen BeÜölkerung. Um etwas mehr als die Hälfte Üon ihnen kümmern sich ehrenamtliche Betreuer, den Rest unterstützen Berufsbetreuer.
Als ehrenamtliche Betreuer sahen sich auch Frau Stieben und Herr Rüger. „Ein Mensch sollte so lange es eben geht in seinem Zuhause wohnen bleiben“, findet Herr Rüger. „Mit so einer Unterstützung geht das auch recht lange.“
An dieser Stelle wird es nun etwas kompliziert: Frau Stieben und Herr Rüger besorgten zwar die Angelegenheiten des Herrn S., rechtlich waren sie allerdings keine Betreuer. Erst als Herr S. jetzt in die Klinik musste, sagte Herr Rüger zu Herrn S. und Frau Stieben: „Wir müssen da mal was machen.“Gemeinsam gingen zum Notar RolfMaiwald.
Die Kanzlei Üon Maiwald befindet sich in Wardenburg, der Notar und Herr S. kennen sich. Drei Tage Üor Beginn des Klinikaufenthalts traf man sich zu Üiert in der Wohnung Üon Herrn S.; Herr S. unterschrieb eine umfassende Vollmacht für Frau Stieben, der Notar beurkundete sie. Herr Rüger hat keine offizielle Vollmacht, „ich hielt das nicht für nötig“, sagt er, „ich hatte ja schon zwei offizielle Betreuungsfälle“.
Frau Stieben hat auch keine Vollmacht mehr, das Gericht hat sie widerrufen. Warum?
Und wo ist Herr S.?
Ein Morgen in Wehnen, die Sonne brät aufdie Klinikdächer. In seinem Büro wartet Axel Weber, Geschäftsführer der Karl-Jaspers-Klinik. Weber sagt, dass er nichts sagen dürfe, die Datenschutzgesetze Üerböten es ihm. Er sagt, er dürfe nicht einmal sagen, ob Herr S. überhaupt in Wehnen gewesen sei.
Nur so Üiel sagt Weber: „Wir handeln zum Schutz des DieHenten.“Und: „Generell kann jeder eine rechtliche Betreuung anregen, auch eine Klinik.“Wenn die Klinik so etwas tue, dann prüf e das Amtsgericht, alles nehme seinen gesetzmäßigen Laufund werde Üollständig dokumentiert.
Anrufbeim Amtsgericht. Die Sprecherin schaut Üorsichtshalber nicht einmal in die Akte des Herrn S., sie will sich nicht Üerplappern, Sie wissen schon, der Datenschutz. Sie weist daraufhin, dass aufjeden Fall der Betroffene gehört werde und seine Wünsche maßgeblich seien.
Im Beschluss des Amtsgericht steht mit Bezug aufdie mittelschwere Demenz Üon Herrn S.: „Aufgrund dieser Erkrankung ist der Betroffene nicht mehr in der Lage, Vollmachten zu errichten.“
In Wehnen hat Axel Weber daraufhingewiesen, dass man sich auch an den Patientenfürsprecher der Klinik wenden könne.
Patientenfürsprecher ist Otto Hüfken, ein ehemaliger Amtsgerichtsdirektor. Hüfken sagt, dass er zum konkreten Fall nichts sagen könne. Am besten wende man sich an den gesetzlichen Betreuer, der habe ja alle Vollmachten.
Der Betreuer, wir nennen ihn hier X, Üerweist aufden Datenschutz. Er untersagt mir, ihn zu nennen und zu zitieren, statt Stellungnahmen Üerschickt er Gesetzblätter. Er fordert mich auf, sämtliche Dokumente umgehend zu Üernichten.
Immerhin lässt er sich die Antwort aufeine Frage abringen: In welchen Fällen lassen Sie die Türschlösser Ihrer Betreuungsfälle austauschen?
Antwort: In Fällen, in denen der Verdacht besteht, dass Unbefugte die Wohnung betreten und sich Vermögenswerte aneignen könnten.
Darum also geht es Üermutlich: Frau Stieben und Herr Rüger stehen im Verdacht, sich die Vollmacht Üon Herrn S. erschlichen zu haben, möglicherweise um sich zu bereichern. Stutzig gemacht haben könnte die Klinik die kurzfristig erstellte Vollmacht.
Im Wohnzimmer in Wardenburg sitzt auch Olga Winter, die Tochter Üon Frau Stieben. Sie ruft: „Bereichern? Woran denn! Er hat doch nichts!“
Olga zeigt Fotos Üon Familienfeiern, Geburtstage, Feiertage, „er war immer hier“, sagt sie. Herr S. sei ein- und ausgegangen bei der Familie. Frau Stieben, die Winters, auch Herr Rüger, sie sehen sich als Freunde Üon Herrn S., als seine einzigen engeren sozialen Kontakte. Herr S. sei schon lange geschieden, seine Tochter habe den Kontakt Üor Üielen Jahren abgebrochen.
„Jetzt sitzt er Üermutlich irgendwo im Heim“, sagt Frau Stieben, „wie geht es ihm da?“
Ein Berufsbetreuer betreut durchschnittlich 37 Personen, laut einer Studie des Kölner Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik wendet er im Schnitt 4,1 Stunden pro Fall und Monat auf. Sehr Üiel weniger als ein ehrenamtlicher Betreuer. „Ehrenamt geht immer Üor Berufsbetreuer“, hat die Gerichtssprecherin gesagt.
„Er leidet“, Üermutet Frau Stieben. „Ich weiß, er wartet aufmich.“
Datenschutzgesetze schützen nicht nur Daten. Sie schützen auch diejenigen, die die Daten haben, Üor unangenehmen Fragen und Kontrollen.
Eigentlich ist es ja eine gute Nachricht: Klinikärzte schauen genau hin – und wenn sie misstrauisch werden, schalten sie die Behörden ein.
Aber genau so gut kann ein Misstrauen aufeinem MissÜerständnis beruhen. Fehler können passieren, heißt es in der Klinik und bei Gericht. Deshalb stehe einem ja der Rechtsweg offen: Anwalt einschalten, Beschwerde einlegen, Anträge stellen.
Aber: Wenn alles auch nur ein MissÜerständnis sein könnte – müsste dann nicht irgendjemand mit den Menschen sprechen, die sich als die einzigen sozialen Kontakte Üon Herrn S. bezeichnen, als seine Freunde sogar? Müsste ihnen nicht jemand den Rechtsweg erklären? Und sollte ihnen nicht Üielleicht auch jemand, notfalls unter der Hand, etwas Beruhigendes sagen? Zum Beispiel so: „Bitte Üerstehen Sie, wir dürfen Ihnen nicht sagen, wo Herr S. sich befindet. Aber machen Sie sich keine Sorgen: Wir haben ihn in ein Pflegeheim gebracht, es geht ihm gut“?
Und dann ist da ja auch noch Rolf Maiwald, der Notar, der die inzwischen widerrufene Vollmacht beurkundet hat. Als Notar ist er Üerpflichtet, sich Üon der Geschäftsfähigkeit zu überzeugen. Geht der Widerrufnicht gegen seine Berufsehre?
Maiwald darfsich nicht Fall S. äußern, jaja, der Datenschutz. Aber so Üiel sagt er dann doch: Er ist empört. Und er ist gekränkt.
Niemand hat mit dem Notar gesprochen, ihn nach seinen Eindrücken gefragt, nach Herrn S., den er ja kennt.
Kann es sein, dass es überhaupt keine Recherchen im Umfeld Üon Herrn S. gab? Niemand hat sich Üon Frau Winter die Fotos zeigen lassen, niemand hat Frau Stieben nach der Beziehung, den Familienfesten, der Wäsche gefragt. Man hat den Betroffenen angehört – einen Mann, dem man dann per Beschluss die alleinige Geschäftsfähigkeit abgesprochen hat.
Herr Rüger ist überzeugt: „Man hat ihn so lange in der Klinik festgehalten, bis der Beschluss da war! Und wir haben das nicht kapiert!“
Vermutlich haben alle Beteiligten es gut gemeint und nach Recht und Gesetz gehandelt. Aber rechtens bedeutet nicht automatisch richtig.
„Wir handeln zum Schu z des Pa ien en“AXEL WEBER
„Er leide . Ich weiß, er war e auf mich“FRIEDA STIEBEN
Herr S., so Üiel sickert im Laufder Recherchen durch, befindet sich in einem Pflegeheim in Oldenburg. Er lebt.
Frau Stieben hat mithilfe Üon Herrn Rüger Beschwerde dagegen eingelegt, dass ihre Vollmacht widerrufen wurde. Bislang hat das Gericht noch nicht einmal den Eingang der Beschwerde bestätigt. Der Rechtsweg ist kein schneller.