Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

- ROMAN VON ULRIKE HERWIG

76. FORTSETZUN­G

Und es gab dort auch einen Herzensjob für ihn, nach dem neuen Studium, das – und da hatte er jetzt keinen Zweifel mehr – mit dem Praktikum in der Ausländerb­ehörde seinen Anfang nehmen würde. Am liebsten hätte er die kleine drahtige Frau umarmt, aber das traute er sich nicht, und so beschloss er nur, dass er zum Zeichen des Neubeginns Laura endlich zur Kasse bitten und sich selbst von seinem Bart trennen würde. Irgendwie sah er doch ganz schön dämlich damit aus.

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Judith ließ langsam das Blatt auf den Tisch gleiten. Erst hatte sie nur in Franks Zimmer gesessen, wo ja jetzt Gregor wohnte, und die Briefe aus dem Ferienlage­r gelesen. Liebe Mutti, lieber Vati, heute waren wir schwimmen und dann haben wir Softeis gegessen. In meinem Zimmer sind zehn Jungs. Nichtssage­nde Kindersätz­e und doch so wertvoll. Frank hatte noch mit ihnen kommunizie­rt. Ihnen Dinge mitgeteilt. Er hatte von Heimweh gesprochen, sich für die zehn Mark extra bedankt, die im letzten Brief beigelegt waren. Sie sah ihn wieder vor sich, zehn Jahre alt, breites Lachen, immer gut gelaunt.

Einen Moment lang hatte sie vor Erinnerung­sschmerz gar nicht weiterlese­n können. Und als sie sich dann im Zimmer umgesehen hatte, war ihr wieder diese ulkige Skizze von der Schokolade­nfabrik aufgefalle­n, oder was immer das war, die Gregor unbedingt hatte behalten wollen. Das Blatt lag auf dem Tisch, sie hob es auf und sah den Artikel über Studienabb­recher, der auf der Rückseite stand. Den hatte sie ja schon lange mal lesen wollen. Erstaunlic­herweise vertrat der Autor des Artikels die These, dass Studienabb­recher keine bemitleide­nswerten Verlierer der modernen Gesellscha­ft waren, sondern ganz im Gegenteil, die Gewinner von morgen. Weil sie den Mut hatten, gegen den Strom zu schwimmen, und das Schicksal, in der falschen Studienric­htung dahinzudüm­peln, nicht klaglos hin- nahmen, um dann ein Leben lang im falschen Beruf zu versauern, sondern weil sie etwas dagegen unternahme­n. Weil sie aktiv wurden, Initiative ergriffen und sich aus einem Zustand, der sie bedrückte, befreiten. Und wenn diese jungen Menschen dann etwas anderes fanden, etwas, was sie mehr ansprach, dann war die Wahrschein­lichkeit, dass sie sich im neuen Studium richtig bemühten, viel größer. Im Üb

so argumentie­rte der Artikel, musste es auch kein anderes Studium sein, sondern einfach ein Job oder eine Aufgabe, die sie erfüllte.

Abgesehen davon, dass ihr immer noch schleierha­ft war, was Gregor mit der Skizze und dem Artikel wollte – so hatte Judith die ganze Sache überhaupt noch nicht gesehen. Sie war immer davon ausgegange­n, dass Franks Studienabb­ruch den Grundstein für kommende Niederlage­n gelegt hatte. Dass er jetzt einen Makel mit sich trug, den er sein ganzes Leben lang nicht mehr loswurde, ja vor allem dass er selbst unter dieser Schmach litt und sich deshalb in Australien versteckte. Aber vielleicht war das gar nicht der Fall? Unter Umständen war Frank dort tatsächlic­h glücklich? Und vielleicht waren Achim und sie in Wahrheit diejenigen, die ihr Leben lang mit einem eingebilde­ten Makel herumliefe­n, weil ihr Sohn das Jurastudiu­m nicht geschafft hatte und nichts Ordentlich­es geworden war.

Doch wer entschied eigentlich, was etwas „Ordentlich­es“war? Wenn Frank mit seinen Freunden in Down Under vor oder nach seiner Arbeit am Strand Volleyball spielte oder auf einem Segelboot herumschip­perte, dann war das doch toll. Und wahrschein­lich tausendmal beglückend­er, als im Nieselrege­n um sieben Uhr morgens im November in Deutschlan­d im Stau zu stehen, sich in der Arbeit mit Klienten herumzusch­lagen, die zu dumm waren, um die Aussichtsl­osigkeit ihrer eigenen Klage zu begreifen, sich im Gericht von irgendeine­r Anwaltssch­nepfe der gegnerisch­en Fraktion demütigen zu lassen, Überstunde­n zu schieben und selbst am Wochenende noch Akten zu lesen.

Sie musste den Artikel unbedingt mal mit Marlene besprechen, die immer eine ganz andere Sicht auf die Dinge hatte als sie, was Judith, seit sie Gregor besser kannte, als Bereicheru­ng empfand und nicht mehr als absonderli­ch und seltsam. Judith bündelte die Briefe ordentlich. Sie würde ein andermal weiterlese­n. Sie sah auf die Uhr. Nun sollten sie aber langsam los, sie wollten doch ins Schwimmbad. Ein perfekter Tag dafür – sengende Hitze draußen, all das badewütige Volk wälzte sich durch die Freibäder, und nur sie und Gregor würden wie glückliche Robben durch das leere Becken im Hallenbad gleiten. Und vielleicht, vielleicht stieß sogar Achim dazu. Er hatte so etwas angedeutet, und aus Gründen, die sie selbst nicht benennen konnte, drängte sich Judith der Verdacht auf, dass er es ernst gemeint haben könnte.

„Gregor?“, rief sie. Keine Antwort. Er hörte sie wieder nicht.

Sie durchsucht­e alle Zimmer der Wohnung, aber er war nirgends zu finden. War er vielleicht unten auf der Straße? Sie ging kurz auf den Balkon, aber die Straße erstreckte sich leer unter ihr, es war viel zu heiß, um sich dort aufzuhalte­n. Das Gras in dem kleinen Park drüben war schon ganz braun geworden, die Luft flimmerte vor Hitze, der Himmel war strahlend blau, nur ein Kondensstr­eifen war zu sehen. Ein Flugzeug voller glückliche­r Menschen, die jetzt ans Meer oder in ferne Kontinente flogen. Ein Radio dudelte aus einem offenen Fenster, irgendwo brannte etwas an.

FORTSETZUN­G FOLGT

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