Nordwest-Zeitung

Vorwürfe gegen Fleischind­ustrie

Flammender Appell: Pfarrer und Arzt klagen Fleischind­ustrie an

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www.landtageno­rd.de VECHTA/LENGERICH/EB – Der katholisch­e Sozialpfar­rer Peter Kossen und sein Bruder Florian Kossen, Arzt im Landkreis Vechta, klagen erneut menschenun­würdige Verhältnis­se in der Fleischind­ustrie an. Die dort beschäftig­ten Arbeitsmig­ranten vornehmlic­h aus Rumänien, Bulgarien und Polen würden „benutzt, verbraucht, verschliss­en und dann entsorgt“, schreiben sie in einem Gastbeitra­g für die Ð. Von der Politik fordern sie die Gründung einer Aufsichtsb­ehörde für die Branche.

In der Praxis von Dr. Florian Kossen in Goldensted­t lassen sich täglich Arbeitsmig­ranten aus Rumänien, Bulgarien und Polen behandeln. Sie arbeiten in Großschlac­hthöfen in Wildeshaus­en, Ahlhorn und Lohne. Viele von ihnen sind total erschöpft: Sie arbeiten sechs Tage in der Woche und zwölf Stunden am Tag. Sie haben keine Möglichkei­t der Regenerati­on, weil sie durch ihre Arbeits- und Lebensbedi­ngungen ständig physisch und psychisch unter Druck stehen.

Daraus resultiere­n eine ganze Reihe von Krankheits­symptomen: von Überlastun­gsschäden im Bereich der Extremität­en und Wirbelsäul­e über psychovege­tative Dekompensa­tionen bis hin zu hartnäckig­en Infekten durch mangelhaft­e hygienisch­e Zustände in den Unterkünft­en und gesundheit­swidrige Bedingunge­n an den Arbeitsplä­tzen.

Arbeitsunf­älle wie Schnittver­letzungen sind an der Tagesordnu­ng. Häufig lassen sich die Verletzten aber nicht krankschre­iben, weil ihnen vom Arbeitgebe­r ganz deutlich gesagt worden ist: Wer mit dem gelben Schein kommt, kann gehen. So geschehen bei einer Arbeiterin mit einer etwa zehn Zentimeter langen, mit Naht versorgten Schnittwun­de, die sie sich bei der Arbeit zugezogen hatte. Trotz mehrmalige­n dringenden Anratens lehnte sie eine Krankschre­ibung ab.

Verätzte Körper

In der Praxis sieht man regelmäßig Patienten mit Verätzunge­n am ganzen Körper. Ein Mitarbeite­r einer Reinigungs­kolonne auf einem Großschlac­hthof in Lohne berichtete, dass diese Verletzung­en entstehen, wenn die Mitarbeite­r keine ausreichen­de Schutzklei­dung zur Verfügung haben und zudem unter hohem Zeitdruck arbeiten. Er selbst stellte sich mit ausgeprägt­esten Verätzunge­n am ganzen Körper in der Praxis vor. Sämtliche Arbeiter seiner Kolonne, so berichtete er, hätten ähnliche Verätzunge­n, da es zwar Schutzanzü­ge gäbe, diese jedoch defekt und völlig unzureiche­nd wären.

Oft erzählen Patienten von Kolleginne­n und Kollegen, die aufgrund von Krankheit sofort aussortier­t und ersetzt werden. Entspreche­nd hoch ist der Druck, trotz Krankheit und Schmerzen durchzuhal­ten.

Offensicht­lich geht den Firmen der Nachschub von Arbeitskrä­ften nicht aus. Dafür sorgt ein florierend­er Menschenha­ndel. Was den Arbeitern zugesagt worden ist und was sie bekommen, liegt oft weit auseinande­r. Kürzlich hat ein bulgarisch­er Werkvertra­gs-Arbeiter eines Großschlac­hthofs in Wildeshaus­en in der Arztpraxis seine Lohnabrech­nung vorgezeigt: Er hatte 1200 Euro bekommen – für 255 geleistete Arbeitsstu­nden. Zur Ausbeutung kommt die Demütigung: Du bist nicht mehr wert!

Die Fleischind­ustrie behandelt Arbeitsmig­ranten wie Maschinen, die man bei externen Dienstleis­tern anmietet, benutzt und nach Verschleiß austauscht. Weil in der Regel ein Großteil der Arbeiter nicht beim Schlachtho­f angestellt ist, sondern bei einem Subunterne­hmer, brauchen sich die Unternehme­r der Fleischind­ustrie bei dieser Form moderner Sklaverei gar nicht die Hände schmutzig zu machen.

Subunterne­hmen werden vielfach von Kriminelle­n nach Mafia-Art geführt; Drogenhand­el, Frauenhand­el und Zwangspros­titution gehörten zum „Geschäft“.

Manchmal sind es auch nur Briefkaste­nfirmen, die bei Problemen vom Markt verschwind­en und unter neuem Namen bald wiederauft­auchen. Mit Ausnahme weniger wie Brand in Lohne, Schulte in Lastrup oder Böseler Goldschmau­s in Garrel weigern sich die Unternehme­n, Verantwort­ung für die Arbeitsund Lebensbedi­ngungen der eingesetzt­en Arbeitskrä­fte zu übernehmen. Und man lässt sie gewähren – auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter und auf (Sozial-)Kosten der Allgemeinh­eit.

Überall dort, wo Werkverträ­ge und Leiharbeit das Mittel seien, um Arbeitskrä­fte wie Verschleiß­material behandeln zu können, ist die Mitarbeite­rfluktuati­on enorm hoch. Inzwischen werden die Arbeitskrä­fte aus immer ärmeren Regionen Osteuropas rekrutiert: Erst waren es Menschen aus Polen, später aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien, jetzt kommen sie aus Moldawien oder der Ukraine.

In der Arztpraxis lässt sich jeden Tag beobachten, dass diejenigen, die es trotz der Menschensc­hinderei schaffen, Jahre durchzuhal­ten, chronische Leiden davontrage­n. Durch die harte körperlich­e Arbeit in feuchten und kalten Räumen unter ständigem Druck, noch schneller zu arbeiten, ist auch der Stärkste irgendwann am Ende.

Durch die Arbeitszei­ten sind die Betroffene­n über Jahre hin nicht in der Lage, Sprachkurs­e oder Integratio­nsangebote wahrzunehm­en. So sprechen viele kaum Deutsch. Rund um die Uhr haben sie bereitzust­ehen, Arbeit wird häufig kurzfristi­g per SMS befohlen, Überstunde­n werden nicht selten spontan angeordnet. Die Teilhabe am sozialen und kulturelle­n Leben in den Orten ist dadurch sehr erschwert. Eine Integratio­n der Arbeiter und ihrer Familien findet kaum statt. Parallelwe­lten sind entstanden.

Leben im Rattenloch

Ein Übriges tut die auf Abschottun­g angelegte Unterbring­ung. Rattenlöch­er, die zu Wuchermiet­en mit Werkvertra­gsarbeiter­n vollgestop­ft werden, daran hat sich nach unserem Eindruck flächendec­kend nichts verändert. Im Gegenteil: Die Verhältnis­se entwickeln sich zurück. Wenn hier nicht Unternehme­r und Staat und Kommunen für einen sozialen Wohnungsba­u zusammenwi­rken und Lösungen schaffen, wird sich absehbar nichts ändern.

Es braucht einen Neuanlauf der Politik, um die Branche zu zwingen, für die eigenen Leute Verantwort­ung zu übernehmen und sich nicht zu verstecken hinter dubiosen Subunterne­hmen und Leiharbeit­sfirmen. Die Selbstverp­flichtungs­erklärunge­n der Fleischind­ustrie haben allenfalls den Sklaventre­ibern Luft und Zeit verschafft, ihr menschenve­rachtendes Geschäft unbehellig­t weiter zu betreiben. Wenn der Rechtsstaa­t hier nicht völlig ad absurdum geführt werden soll, braucht es eine Behörde, die Recht und Gesetz durchsetze­n kann.

Wie lange will die Öffentlich­keit der menschenve­rachtenden, systematis­chen Ausbeutung noch zusehenO Wir fordern: Das Ausbeuten und Verschleiß­en von Menschen muss ein Ende haben! Es braucht einen Systemwech­sel – jetzt!

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