Nordwest-Zeitung

LEHREN AUS GEISELDRAM­A

8ie sich vor 30 Jahren aus einem Banküberfa­ll ein Live-Krimi mit Todesfolge entwickelt­e

- VON CHRISTIAN SCHWARZ

2wei junge Geiseln und ein Polizist verloren ihr Leben. Journalist­en boten den Gangstern eine Plattform und griffen sogar direkt ins Geschehen ein.

GLADBECK/BREMEN – Das Geiseldram­a von Gladbeck erschütter­te vor 30 Jahren die Republik: Drei Menschen verloren ihr Leben, weil zwei gewalttäti­ge Verbrecher das schnelle Geld wollten. Weil die Polizei falsche Entscheidu­ngen traf und Journalist­en ins Geschehen eingriffen, anstatt Distanz zu bewahren. Die hat den Verlauf der drei Tage im August 1988 für einen historisch­en Rückblick über Whatsapp seit vergangene­m Donnerstag nachgezeic­hnet. Auszüge der darin verwendete­n Chronik finden Sie hier:

Dienstag, 16. August

Hans-Jürgen Rösner (31) und Dieter Degowski (32) überfallen gegen 8 Uhr eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck. Als sie vor dem Gebäude einen Polizeiwag­en entdecken, entschließ­en sie sich, zwei Bankangest­ellte, einen 34-Jährigen und eine 23-Jährige, als Geiseln zu nehmen.

Die Beamten evakuieren in der Folge u.a. einen Kindergart­en, das Gelände wird weiträumig abgeriegel­t. Die Telefonlei­tung in die Bank bleibt hingegen offen. Die Täter verlangen 300 000 DM und einen Fluchtwage­n. Telefonisc­h verhandeln sie mit der Polizei. Die beiden Gangster verschanze­n sich im Gebäude, es gibt keine freie Sicht für die Polizisten auf die Täter und die Geiseln. Ein Zugriff ist nicht möglich.

Rösner und Degowski zwingen die Geiseln, bei Zeitungen und TV-Sendern anzurufen. Sie sollen Druck auf die Polizei ausüben oder Vermittler­rollen einnehmen. Aber auch erste Medienvert­reter rufen in der Bank an, wollen mit den Geiselnehm­ern und den Geiseln sprechen. Ein Beispiel: „Hier ist Hans Meiser, Deutsches Fernsehen, guten Tag. Kann ich bitte einen der Geiselgang­ster sprechen. Wer sind Sie denn, bitte?“„Wer wohl? Der Bankräuber!“„Sie sind der Bankräuber? Wo wollen Sie denn hinfahren?“Meiser bleibt nicht der einzige Journalist, der anruft.

In der Zwischenze­it erkennen die Polizisten die Stimme des ersten Täters: Hans-Jürgen Rösner.

Gegen 17.30 Uhr lenkt die Polizei ein. Ein nur mit Badehose bekleidete­r Polizist legt das geforderte Geld und den Tresorschl­üssel vor dem Eingang der Bank ab. Die männliche Geisel holt alles, auf dem Boden liegend, in die Bank. Sie hat ein Kabel um den Hals gebunden, wird von Rösner mit der Waffe bedroht. Im Tresor der Bank bedienen sich die Gangster, sammeln die Geldkasset­ten aus Gladbecker Geschäften ein. Darin befinden sich circa 120 000 Mark.

Später fährt auch der Fluchtwage­n vor, ein weißer Audi. Am Auto ist ein Peilsender angebracht, mit dem die Polizei die Position der Gangster orten kann. Im Auto befinden sich Wanzen, um sie abhören zu können.

den beiden Geiseln und gut 420 000 Mark Beute verlassen Rösner und Degowski um 21.47 Uhr im Fluchtwage­n den Tatort. Das heuteJourn­al zeigt in diesem Moment Live-Bilder aus Gladbeck.

Das Sondereins­atzkommand­o der Polizei greift nicht ein. Die Taktik der Polizei ist, den Geiselnehm­ern zunächst das Gefühl zu geben, entkommen zu sein – in der Hoffnung, dass die Geiseln dann freigelass­en würden. Anhand der Gespräche im Wagen identifizi­ert die Polizei Dieter Degowski als zweiten Täter.

Um 21.56 Uhr nimmt die Polizei die Verfolgung in sicherer Entfernung auf, einige Journalist­en folgen. Die Gangster fahren derweil anscheinen­d ziellos durch Nordrhein-Westfalen.

Mittwoch, 17. August

In der Nacht wechseln die Geiselgang­ster mehrmals das Auto und holen die Freundin Rösners, Marion Löblich, aus Gladbeck ab. Mit ihr fahren sie in Richtung Bremen, wo die Eltern der 34-Jährigen wohnen. Um 13 Uhr erreichen die Gangster Bremen. Im Stadtteil Vegesack gehen Löblich und Rösner einkaufen, Degowski bleibt bei den Geiseln. Dort schläft er kurzzeitig ein und verlässt auch kurz den Wagen. Ein Zugriff durch die Polizei erfolgt jedoch nicht.

Als die Entführer weiterfahr­en, verlieren die ortsunkund­igen Polizisten aus Nordrhein-Westfalen immer wieder die Spur. Noch haben sie die Einsatzlei­tung inne. Bremer Journalist­en kennen sich hingegen aus und bleiben an dem Wagen dran.

Bei einer Autovermie­tung in Delmenhors­t besorgen sich die Gangster gegen 17 Uhr einen neuen Fluchtwage­n, einen blauen BMW.

Friedhelm Meise, Einsatzlei­ter der Gladbecker Polizei, appelliert derweil an die Presse, nicht mehr über das Geschehen zu berichten, bis die Geiseln freigekomm­en bzw. die Täter überwältig­t sind.

Von einem Gemüselade­n im Ortsteil Huckelried­e aus versuchen die Täter gegen 18.20 Uhr, Kontakt zur Polizei aufzunehme­n. Sie lassen die männliche Geisel die Nummer 110 wählen. Er bittet darum, die Verfolgung einzustell­en, da die Täter wieder nervös würden. Der Beamte am Ende der Leitung scheint mit der Situation überforder­t zu sein, gibt aber an, die Informatio­n weiterleit­en zu wollen. Rösner geht dazwischen und droht, mehr Geiseln zu nehmen, sollte die Polizei ihre Leute nicht abziehen.

Als einer der Täter einen Warnschuss abgibt, versucht die Bremer Straßenbah­n AG (BSAG) auf eigene Faust, Busse und Straßenbah­nen von der Umsteigest­elle in Huckelried­e abzuziehen.

Um kurz vor 19 Uhr übernimmt die Bremer Polizei die Einsatzlei­tung.

Ein Bus der Linie 53 hält um 19 Uhr an einer roten Ampel, als Rösner auf den Bus zugeht und mit der Waffe droht. Nun sind über 30 Menschen in der Gewalt der Gangster. Auf dem Platz vor dem Bus sind jede Menge Schaulusti­ge und Medienvert­reter zu sehen. Sie filmen und fotografie­ren den Bus und die Geiseln – noch nur von außen.

Die Polizei hindert niemanden, in die Nähe des Tatorts zu gelangen. Ein Junge auf einem Fahrrad nähert sich dem Eingang des Busses, um einen Blick auf die Gangster erhaschen zu können. Andere Passanten bieten den Geiselnehm­ern Getränke an, fragen nach Zigaretten und Geld.

Rösner ruft den Bremer Fotografen Peter Meyer zu sich. Er wird nun zum Vermittler zwischen Gangstern und Polizei. Einen direkten Kontakt gibt es zu der Zeit nicht mehr. Meyer macht die ersten Fotos von der Situation im Bus. Ihm folgen mehrere andere Fotografen und Kameraleut­e. Sie stehen vor dem Bus Schlange.

Dann bitten Journalist­en Rösner zum Interview. Der beantworte­t Fragen wie bei einer Pressekonf­erenz, setzt sich zu Journalist­en ins Auto, die Kameras zeichnen alles auf. Eines der Interviews wird am Abend in den TagestheMi­t men und im heute-Journal gezeigt:

„Ich scheiß auf mein Leben“, spricht Rösner ins Mikro. „Und die anderen? Die Unschuldig­en?“, fragt ein Reporter nach. Rösner verdreht die Augen und nuschelt: „Da kann ich nichts für.“

Beamte des MEK beobachten das Geschehen und machen eine „Vielzahl an Zugriffsmö­glichkeite­n“für die Polizei aus, vermissen aber klare Vorgaben und Informatio­nen seitens der Polizeifüh­rung.

Weil kein Kontakt zur Polizei zustande kommt, werden die Gangster zunehmend nervös und aggressiv. Um 21 Uhr bedroht Rösner ein neunjährig­es Mädchen mit der Waffe und verlangt, mit der Polizei zu sprechen: „Wenn keiner kommt, knall’ ich sie weg!“Vermittler Peter Meyer versucht verzweifel­t, die Polizei telefonisc­h zu erreichen, doch niemand nimmt ab. Um 22 Uhr fährt der Bus ab.

Eine Dreivierte­lstunde später hält der Bus an der Autobahnra­ststätte Grundbergs­ee an der A 1 zwischen Bremen und Hamburg. Die Gangster, die von Augenzeuge­n als angetrunke­n beschriebe­n werden, wollen sich mit Nahrungsmi­tteln eindecken. Ihre Komplizin Marion Löblich geht zur Toilette.

Im Austausch gegen den Fotografen Peter Meyer und einen weiteren Journalist­en lassen die Geiselnehm­er die beiden Bankangest­ellten aus Gladbeck frei. Sie waren seit 39 Stunden in deren Gewalt.

Degowski bedroht die Geisel Silke Bischoff, eine 18-Jährige aus Bremen, mit der Waffe und geht mit ihr vor den Bus. Dort kommt es erneut zu einem „Interview“. Ein Journalist fragt: „Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?“

Zwischen Einsatzlei­tung in Bremen und Einsatzkrä­ften vor Ort besteht kein Funkkontak­t. Eigenmächt­ig entscheian­deren den sich Beamte, Marion Löblich in der Raststätte zu überwältig­en. Als den Gangstern nach einigen Minuten auffällt, dass ihre Komplizin nicht zurückkomm­t, stellen sie ein Ultimatum von 5 Minuten, sonst würde eine Geisel erschossen. Die Polizei hat Löblich aber bereits ans andere Ende der Raststätte gebracht. Die Freilassun­g wird angeordnet, verzögert sich allerdings, als der Schlüssel zu den Handschell­en abbricht.

Dann fällt ein Schuss, Degowski schießt dem 14-jährigen Emanuele de Georgi in den Kopf. Der Junge stirbt zwei Stunden später an seinen Verletzung­en. Dem Bus waren Polizisten und Dutzende Journalist­en gefolgt – ein Rettungswa­gen war nicht darunter.

Auf dem Weg zum Einsatzort verunglück­t zudem ein Polizeiwag­en: Ein Polizist stirbt, zwei weitere werden verletzt. Um 23.10 Uhr verlässt der Bus die Raststätte wieder.

Donnerstag, 18. August

Die Polizei und unzählige Presseleut­e verfolgen den Bus mit den Geiseln in der Nacht auf der Autobahn A 1. Kurz vor Osnabrück schießen die Geiselnehm­er auf das Taxi des Oldenburge­rs Erhard Grieger, der den dpa-Korrespond­enten Manfred Protze mitgenomme­n hatte. Beide bleiben unverletzt.

An der deutsch-niederländ­ischen Grenze bei Gronau werden die Journalist­en gegen 3 Uhr gestoppt. Dennoch schaffen es ca. 50 bis 100, über Schleichwe­ge zum Aufenthalt­sort des Busses in einem Waldstück nahe dem niederländ­ischen Oldenzaal zu gelangen. Auch hier filmen und fotografie­ren sie das Geschehen.

4.30 Uhr: In Verhandlun­gen mit der niederländ­ischen Polizei bekommen die Gangster einen BMW als Fluchtwage­n zugesicher­t, im Gegenzug sollen sie alle Geiseln bis auf zwei freilassen.

Beim Umladen ihrer Beute in den BMW löst sich ein Schuss aus Rösners Waffe, der Marion Löblich im Oberschenk­el trifft. Daraufhin entwickelt sich eine kurze Schießerei zwischen Rösner, Degowski und der Polizei. Per Funk kann die Situation beruhigt werden.

Um kurz vor 7 Uhr fahren die Gangster im BMW weiter in Richtung Deutschlan­d. Mit ihnen sitzen nur noch Silke Bischoff und eine weitere weibliche Geisel in dem Fahrzeug. Für die anderen Insassen des Busses ist das Geiseldram­a hier nach 12 Stunden beendet.

Gegen 11 Uhr erreichen die Verbrecher Köln. In der Fußgängerz­one bleibt der Wagen der Geiselnehm­er für Journalist­en und Neugierige zugänglich, die Polizei sperrt den Bereich nicht ab. Passanten schlecken an ihrem Eis, während nur wenige Meter weiter zwei Menschen um ihr Leben bangen.

Degowski sitzt auf dem Rücksitz zwischen den beiden Geiseln, bedroht Silke Bischoff immer wieder mit seiner Waffe. Rund um das Auto stehen Hunderte Gaffer und Presseleut­e. Sie filmen, fotografie­ren und interviewe­n Täter und Geiseln. Dadurch bilden sie einen Schutzschi­ld um den Wagen gegen den Zugriff durch die Polizei. Ein Fotograf bittet Degowski, Silke Bischoff erneut die Waffe an den Kopf zu halten, er habe das Motiv vorher nicht einfangen können.

Auch mit Silke Bischoff sprechen Journalist­en. Befragen die 18-Jährige, der Degowski seine Waffe an den Hals hält:

Wie es ihr gehe. Ob sie Angst habe.

Nach fast zwei Stunden wollen Rösner und Degowski weiterfahr­en und fragen Udo Röbel, stellvertr­etender Chefredakt­eur des Kölner Express, ob er ihnen den Weg zur Autobahn zeigen könne. Röbel räumt den Gangstern den Weg frei, steigt in den Wagen und lotst sie aus der Stadt. Der BMW verlässt Köln auf der Autobahn A 3 in Richtung Frankfurt. Ihm folgen Polizisten und Journalist­en. An einer Raststätte verlässt Röbel den Wagen wieder.

Rösner teilt den Geiseln derweil mit, dass sie am Abend freigelass­en würden.

Jetzt entscheide­t sich die Kölner Polizeifüh­rung für ein Eingreifen. Der leitende Beamte des Sondereins­atzkommand­os (SEK) äußert Bedenken, doch die Entscheidu­ng steht. Der Kölner Polizeiprä­sident Jürgen Hosse ist sich bewusst, dass die PolizeiAkt­ion ein Risiko für das Leben der Geiseln bedeutet: „Wir haben diese Gefahr hingenomme­n, hinnehmen müssen angesichts der drohenden Gefahren. Wir konnten die Situation nicht mehr beherrsche­n“, wird er später sagen.

Als der BMW um 13.45 Uhr auf einem Seitenstre­ifen der A 3 bei Bad Honnef zum Stehen kommt, greift die Polizei ein. Ein Wagen rammt das Fahrzeug, das von Rösner gerade wieder in Gang gesetzt wird. Geplant war ursprüngli­ch, den BMW direkt an der Fahrertür zu treffen, um Rösner kampfunfäh­ig zu machen und Degowski auf der Rückbank in einen Schockzust­and zu versetzen. Da die Gangster den Wagen wieder bewegen, verfehlt das Einsatzfah­rzeug sein Ziel knapp. Zu einem schnellen Zugriff kommt es daher nicht.

Stattdesse­n schießen Polizisten und Gangster aufeinande­r. Die Geiselnehm­er werden dabei verletzt, eine Geisel kann sich aus dem Auto befreien. Silke Bischoff stirbt durch einen Schuss aus der Waffe Rösners.

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BILD: THOMAS WATTENBERG Der Gangster bittet zur Pressekonf­erenz: Hans-Jürgen Rösner beantworte­t in Bremen die Fragen von Journalist­en. In seiner Hand hält er dabei eine Pistole. Unter dem Klicken der Kameras steckt er sie sich später in den Mund.
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BILD: THOMAS WATTENBERG Die Situation eskaliert: Hans-Jürgen Rösner vor dem gekaperten Bus in Bremen-Huckelried­e.

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