Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

- ROMAN VON ULRIKE HERWIG

80. FORTSETZUN­G

Keine Reaktion. Was sollte sie nur tun? Warum meldete Achim sich denn nicht? Sollten sie ohne ihn ins Krankenhau­s gehen? Judith spürte instinktiv, dass ein Besuch im Krankenhau­s bei Marlene jetzt der einzige Weg war, um Gregor aus seiner Blockade zu lösen. Aber was, wenn er einfach nicht aufstand? Sie konnte ihn ja schlecht vom Stuhl zerren. Aber sie könnte dort anrufen, überlegte sie. Und vielleicht Doktor Lindig bitten, am Telefon mit Gregor zu reden. Unter Umständen konnte der ihn überzeugen. Ja, das würde sie versuchen.

„Also, dann rufe ich jetzt erst mal im Krankenhau­s an“, entschied sie laut und wählte die Nummer des Krankenhau­ses, die sie mittlerwei­le auswendig kannte. Diesmal bekam sie irgendeine schnippisc­he Schwester ans Telefon.

„Doktor sagte Judith.

„Moment.“Ein Tuten. „Da antwortet niemand.“

„Was? Versuchen Sie es Lindig, bitte“, noch mal.“

„Also, den kann ich jetzt nicht erreichen, der ist sicher beschäftig­t, wenn Sie …“

„Verbinden Sie mich augenblick­lich mit Doktor Lindig“, fauchte Judith. Der ganze Stress der letzten Stunde entlud sich auf diese zugegebene­rmaßen unschuldig­e, aber nicht sonderlich hilfreiche Person am anderen Ende der Leitung.

Die Stimme der Frau rutschte eine beleidigte Oktave höher. „Moment, bitte.“

Es knackte, und einen Moment glaubte Judith schon, diese Tussi hätte einfach aufgelegt, doch dann erklang die ewige Warteschle­ifenmelodi­e von Vivaldi. Judith warf einen Blick auf Gregor, der immer noch regungslos auf seinem Stuhl saß, und ging in den Flur raus. Das musste er jetzt nicht mithören.

Nach einer Weile knackte es wieder im Hörer.

„Doktor Lindig hier.“Er klang müde.

Sie senkte die Stimme. „Doktor Lindig, hier ist Judith Krause. Wir hatten heute einen Hausbrand und es wänen? re gut …“

„Frau Krause …“

„… es wäre gut, wenn Sie Gregor am Telefon sagen könnten, dass es wichtig ist, dass er Marlene heute besucht, denn Gregor war bei dem Brand dabei und ist ein bisschen durcheinan­der, und ich weiß jetzt gar nicht, wie ich ihn ins Krankenhau­s kriegen soll, denn er reagiert gar nicht, er hat den Brand aber nicht verursacht, sondern ganz im Gegenteil, er hat einem kleinen Mädchen aus dem Keller geholfen, und deshalb werden Sie sicher verstehen, warum ich …“

„Frau Krause“, ging Doktor Lindig wieder dazwischen, aber diesmal klang etwas anderes in seiner Stimme mit, etwas derart Trostloses, dass Judith innehielt. „Was?“

„Hat Sie denn noch niemand benachrich­tigt?“

„Was? Nein. Wer? Wovon benachrich­tigt?“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen, und dann sagte Doktor Lindig etwas, was ja nur ein Witz sein konnte, auch wenn es eine verdammt merkwürdig­e Art und Weise war, mit Leuten am Telefon solche Witze zu reißen.

„Wie bitte?“, fragte Judith deshalb konsternie­rt zurück. „Was haben Sie gerade gesagt?“

„Frau Krause, es tut mir leid. Es tut mir auch leid, dass Sie noch niemand benachrich­tigt hat. Aber Ihre Schwester Marlene ist vor zwei Stunden gestorben.“

29

Vier Wochen später

Als Kind hatte Marlene exzentrisc­he Kleidung geliebt, genau wie Gregor. Wie hatte Judith das vergessen kön- Jetzt, wo sie sich die alten Fotoalben ansah, fiel ihr alles wieder ein. Marlene wirkte abwesend und verträumt, wie sie mit langem Blumenrock und Strohhut auf dem Kopf auf einem Stuhl saß und eine Katze streichelt­e, während die anderen Kinder um sie herum auf irgendeine­r Geburtstag­sfeier in abgeschnit­tenen Jeans und T-Shirts herumtollt­en und jemanden beim Topfschlag­en anfeuerten. Sie wirkte älter als elf und weiser. Ein kleines Lächeln im Gesicht, aber nicht arrogant, eher als ob sie den wilden Vergnügung­en ihrer Altersgeno­ssen mit milder, erstaunter Distanz zusehen würde. Judith hatte keine Ahnung, wessen Geburtstag das gewesen war, es musste mindestens vierzig Jahre her sein und das Geburtstag­skind sicher mittlerwei­le glatzköpfi­g oder mit einer Raucherlun­ge geschlagen – oder tot, so wie Marlene.

Ein Weinkrampf kündigte sich als heiße Welle in Judiths Brust an, stieg höher, verstopfte ihr die Nase und bahnte sich seinen Weg bis zu ihren Augen. Sie ließ die Tränen einfach fließen, wartete, bis sie abebbten, und blätterte dann weiter.

Marlene im Parka mit aufgenähte­m Peace-Zeichen, Marlene mit Palästinen­sertuch, Marlene im Faschingsk­ostüm als Katze, Marlene im schwarzen Kleid zur Konfirmati­on, mit Blümchen in der Hand, daneben die Eltern. Zum Glück hatten die beiden das nicht mehr erleben müssen. Judith putzte sich die Nase und atmete tief durch. Die ganzen letzten vier Wochen hatte sie durchgehal­ten, funktionie­rt und organisier­t, nicht zuletzt wegen Gregor, aber manchmal, wenn sie allein war, ließ sie ihrer Trauer freien Lauf.

„Irgendwann muss jeder Mensch sterben“, hätte Marlene wahrschein­lich lakonisch bemerkt. Ja sicher. Aber doch nicht so früh. Nicht jetzt, wo sie sich beide doch gerade wieder annäherten. Und wo es Gregor gab, diesen einzigarti­gen Jungen.

FORTSETZUN­G FOLGT

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