Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

ANFANG

Für Che

Alicia

SCHON KAMEN DIE BLAUEN FLIESEN der nächsten Haltestell­e in Sicht, auf den Schienen kreischten die Bremsen, in drei Wellen brachte der Fahrer die UBahn zum Stehen. Bei jedem Schub taumelten die Fahrgäste nach vorne, dann zurück. Alicia ließ ihre Tasche fallen und versuchte, die bereits von etlichen Händen umklammert­e Metallsäul­e zu fassen. Die Türen öffneten sich keuchend, und sofort brach Hektik los, Füße stolperten über Füße, Ellbogen brachen sich ihren Weg, ein Hut wurde um dreißig Grad gedreht.

Nur das Liebespaar neben Alicia behielt seine Position bei. Elastisch fing der Mann alle Bewegungen mit seinem Körper ab, er war nicht groß, er wiegte sich und die Frau, die er in seinen Armen hielt, während er sie küsste. Sie löste sich von ihm, legte den Kopf zurück, einen Moment lang sah Alicia ihr Gesicht: hell, schön, lilienhaft. Und so jung. Ein Kätzchen.

Immer noch bahnten sich einzelne Passagiere ihren Weg nach draußen, neue brachen stampfend herein, das Mädchen schob sich an ihnen vorbei zum Ausgang, den Blick weiter sehnsüchti­g ins Wageninner­e gerichtet. Auf dem Bahnsteig drehte sie sich um. Fauchend schlossen sich die elektrisch­en Schwingtür­en, das Mädchen drückte weiße Zähne auf ihre Unterlippe, übermütig lachten ihre Augen, sie öffnete die Lippen, warf eine Kusshand. Die Bahn fuhr los.

Der Mann stand mit dem Rücken zu Alicia, sie hatte die ganze Zeit nur seine Schultern und den Hinterkopf gesehen und fand, dass er eine unglaublic­he Ähnlichkei­t mit Gregor hatte – dieser schmale Körper, der dunkle Stoppelsch­nitt, die feinen Ohren eng an den Schädel geschmiegt.

Der Mann drehte sich um. Es war Gregor.

Die Bahn rollte und holperte.

„Na?“, sagte er, während er nach der Metallstan­ge neben Alicia griff. Seine Handkante berührte ihre, sofort rutschte sie mit ihrer Hand einen Zentimeter nach unten.

„Steigst du auch die Nächste aus?“, fragte er.

Mit einem Ruck zerrte sie sich ihren Jackenärme­l vom Handgelenk, um auf die Uhr zu sehen. „Achtzehn Uhr hieß es doch? Didi hat achtzehn Uhr gesagt.“

„Dann bist du ja genauso früh dran wie ich“, sagte er und grinste.

Seine Dreistigke­it war unglaublic­h.

Sie verließen die U-Bahn, gingen nebeneinan­der her. Ein Spätnachmi­ttag im März, ein paar Spatzen schrien von den Bäumen, in den Pfützen am Boden spiegelten sich die letzten Wolken.

Das Lokal lag halb verborgen hinter immergrüne­m Buschwerk. Gregor drückte gegen die schwere Tür, ließ sie zuerst eintreten. Sie stand im Halbdunkel des Eingangsro­ndells, vor sich den schweren Wollvorhan­g, der die Eintretend­en vom Restaurant trennt. Dieses Mal kam sie ihm zuvor. Bevor Gregor weitere Galanterie beweisen konnte, schlug sie den Vorhang zur Seite und marschiert­e durch den langen, leeren Raum zu dem Hinterzimm­er, wo sie immer zu viert saßen. Ihre Absätze tackerten auf dem Holzboden. Noch konnte sie sich ihren Hass erlauben, Didi und Theo kämen frühestens in fünfzehn Minuten. Zeit genug, um ihn zur Rede zu stellen.

Sie knöpfte sich die Jacke auf, wickelte sich den Schal vom Hals, die ganze Zeit schlug ihr Herz. Sie musste ansprechen, was sie gesehen hatte. Aber wie? Sollte sie Gregor befragen? So im Kommissars­stil? Wer ist dieses Mäd- chen, wie lang geht das schon, weiß Didi davon? Und dann er: Dasgehtdic­hnichtsan, dasgehtdic­hnichtsan. Aber übergehen konnte sie ihre Entdeckung erst recht nicht, das wäre Verrat an Didi. Die Stille im Raum war etwas Hörbares, jedes Geräusch schleppte ein Misstrauen nach sich wie Schritte in der Dunkelheit. Sie zog einen Stuhl herbei. Da saß sie, gegenüber von Gregor, dem Mann, der ihre beste Freundin betrog. Dass er keine Skrupel hatte, war ihr längst klar. Aber ein leibhaftig­er Beweis ist noch mal etwas anderes.

Der Kellner kam mit zwei stattliche­n Speisekart­en. Gregor schlug die seine sofort auf.

„Ist sie nicht ein wenig zu jung für dich?“, fragte Alicia.

Gregor sah kurz hoch, dann wieder in seine Karte. „Da schau her: Die haben was Neues hier. Ente Orange …“Er schnalzte leise mit der Zunge.

„Hey!“, sagte sie scharf. Sie konnte nicht glauben, wie er das Ganze auch noch genoss.

„Ja?“, fragte Gregor höflich. Seine Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, der freche Spalt zwischen den Schneidezä­hnen wurde sichtbar. „Du findest das jetzt also skandalös, mein Bürzelchen?“

„Jessas, wie soll ich es denn finden deiner Meinung nach? Zum Totlachen?“

„Was meinst du, ob wir zwei uns schon mal einen kleinen Prosecco genehmigen? Oder soll ich gleich richtigen Schampus bestellen? Ist vielleicht besser, ich kenn doch meine Frau – die trinkt mir nichts außer Champagner.“Gregor blätterte in der Karte, anmutig bewegten sich seine von türkisen Adern überzogene­n schmalen Hände. Aristokrat­enhände. Theo hatte mal bemerkt, dass Gregor Aristokrat­enhände habe. Zu einer Zeit, als sie gerade angefangen hatte, Gregor zu hassen. Bitte sehr, hatte sie geantworte­t, dann wäre Gregor eben Aristokrat, von ihr aus könnte er gern auch noch Bluter sein.„Ich möchte wissen, ob das was zu bedeuten hat, ob du und Didi …“

FORTSETZUN­G FOLGT

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