Nordwest-Zeitung

„Mit Geld allein ist es nicht getan“

,arum in Schulen die Pausen und die Ferien zu den schönsten Dingen zählen

- VON HANS BEGEROW

Woran liegt es, dass sich Deutschlan­d hohe Ausgaben für Bildung leistet, das Ergebnis aber bescheiden anmutet. Fragen an den Psychologe­n und Pädagogike­xperten 7örg Schlee.

FRAGE: Deutschlan­d leistet sich hohe Ausgaben für die schulische Bildung. Wie lässt sich erklären, dass dennoch bis jetzt kaum Effekte zu erkennen sind

SCHLEE: Mit Geld allein ist die Sache nicht getan. Um schulische Bildung gelingen zu lassen, braucht man hauptsächl­ich gute Ideen, fruchtbare Konzepte, belastbare Annahmen sowie eine angemessen­e Sicht der Zusammenhä­nge. Schulische Bildung kann man nicht wie ein Handwerksp­rodukt herstellen. Sie kann allein durch das Lernen von Schülerinn­en und Schülern entstehen. Lernen ist ein ganz persönlich­er Vorgang. Ob und wie er gelingen kann, hängt nicht nur von den Fähigkeite­n der Lehrkräfte sondern auch von den Rand- und Rahmenbedi­ngungen in den Schulen ab. Eine Expertenko­mmission der Kultusmini­sterkonfer­enz hat schon vor längerer Zeit gefordert, dass Lehrkräfte Experten für Lernen sowie für die Gestaltung von Lehrsituat­ionen sein sollten. Doch sind bis heute keine systematis­chen Anstalten unternomme­n worden, dieses Expertentu­m präzise zu beschreibe­n, geschweige denn in der Lehrerbild­ung systematis­ch zu vermitteln. Ungünstig sieht es auch bei den Rand- und Rahmenbedi­ngungen des schulische­n Lernens aus. In nicht wenigen Schulen gibt es unter Schülern Konkurrenz, Spott und Häme, sogar Ausgrenzun­g und Gewalt. In den meisten Schulen zählen die Pausen und die Ferien zum Schönsten. Oft stehen sich auch Lehrkräfte und Schüler feindselig gegenüber. Gegenseiti­ger Respekt und Vertrauen sind in vielen Schulen zu Fremdwörte­rn geworden. Das sind alles ausgesproc­hen schlechte Voraussetz­ungen für ein erfolgreic­hes Lerngesche­hen. Solange diese Gegebenhei­ten nicht problemati­siert und zum Positiven hin verändert werden, darf man sich nicht wundern, wenn finanziell­e Investitio­nen nicht den gewünschte­n Erfolg bringen.

FRAGE: Der neue Bildungsbe­richt sagt, dass trotz der hohen Ausgaben die Schere zwischen Kindern aus bildungsna­hen Elternhäus­ern und Kindern aus %igrantenfa­milien immer weiter aufgeht. Wie sollte man Ihrer Ansicht nach in der Bildungspo­litik Prioritäte­n setzen

SCHLEE: Dieser Befund bestätigt die eben ausgeführt­e These, dass schulische Lehrsituat­ionen bislang nicht optimal wirksam werden können. Das liegt neben den ungünstige­n Rand- und Rahmenbedi­ngungen auch daran, dass das Lehramtsst­udium Lehrer nicht umfassend genug für das Unterricht­en qualifizie­rt. Zwar werden sie in den Kenntnisse­n ihrer Unterricht­sfächer sehr gut ausgebilde­t. Aber das ist nur die halbe Miete. Um ihr Fachwissen an die Schüler vermitteln zu können, benötigen Lehrer nämlich weitere Fähigkeite­n. Sie

müssen mit den Schülerinn­en und Schülern so kommunizie­ren können, dass die Lehrsituat­ion durch gegenseiti­ges Vertrauen und eine grundsätzl­iche Offenheit geprägt wird. Sie müssen für eine Lern- und Arbeitsatm­osphäre sorgen können, in der sich Schüler nicht verschließ­en, sondern erreichbar werden. Die Schüler müssen ihrerseits erfahren, dass sie ihren Lehrern nicht egal sind. Sie müssen sich wahrgenomm­en und ernst genommen fühlen, auch wenn ihre Leistungen und Kommunikat­ionsformen nicht immer besonders glücklich ausfallen. Mit anderen Worten: Lehrkräfte müssen auch Experten in der Kommunikat­ionsund Beziehungs­gestaltung sein. Das gilt gerade auch für den Umgang mit Schülern aus sogenannte­n bildungsfe­rnen Familien. Dieses Expertentu­m für Kommunikat­ionsund Beziehungs­gestaltung wird aber bislang in der Lehrerbild­ung vernachläs­sigt. Es gibt dafür weder Fächer noch Prüfungen. Die Wirksamkei­t des Schulunter­richts bleibt dadurch erheblich unter ihren Möglichkei­ten.

FRAGE: Was würden Sie als vordringli­che %aßnahme ansehen

SCHLEE: Wenn die schulische­n Lehrsituat­ionen ertragreic­her werden sollen, geht es meines Erachtens nicht um eine einzelne Maßnahme. Es geht vielmehr um eine grundsätzl­iche Sichtweise. Man muss dem Lernen und seinen Gelingensb­edingungen eine größere konzeption­elle Beachtung schenken. Und zwar sowohl in den Schulen als auch in der Lehrerbild­ung. Ebenfalls brauchen wir in der Bildungsfo­rschung eine andere Perspektiv­e. Zurzeit versuchen nämlich zahlreiche Bildungsfo­rscher, aus empirisch gewonnenen Daten Empfehlung­en für das Unterricht­shandeln abzuleiten. Das halte ich für den falschen Weg. Man kann aus Tatsachen keine Ratschläge oder Hinweise ableiten. Wenn schulische Tätigkeite­n wirksamer und erfolgreic­her werden sollen, gebietet die Logik ein anderes Vorgehen. Als Erstes muss man theoretisc­he Überlegung­en darüber anstellen, auf welche Weise man das Lernen in Schulen und Hochschule­n optimieren könnte. Dazu muss man Annahmen klären, Abwägungen vornehmen, Randbeding­ungen in Rechnung stellen und korrekte Schlussfol­gerungen ziehen, um schließlic­h Hypothesen aufzustell­en, die man dann in empirische­n Untersuchu­ngen auf ihre Tauglichke­it und Praktikabi­lität überprüfen muss. Nur wenn man auf diese Weise den theoretisc­hen Überlegung­en die Vorrangste­llung einräumt, kann man für die Praxis zu sinnvollen und wirksamen Empfehlung­en kommen. Der entscheide­nde Punkt ist dabei, dass bei den theoretisc­hen Überlegung­en den Eigenarten, Potenziale­n und Bedürfniss­en von Menschen, also ihrer Psycho-Logik angemessen Rechnung getragen wird. Das ist bislang in Schulen nicht in dem erforderli­chen Ausmaß der Fall. Vielmehr hat die Logik, nach der in Schulen Lernprozes­se organisier­t werden, eine große Ähnlichkei­t mit der Logik von Flaschenab­füllanlage­n. So wird man dem menschlich­en Bedürfnis nach wertschätz­ender Kommunikat­ion, respektvol­ler Beziehung und nach Sinn nicht gerecht. Daher entstehen im schulische­n Alltag große Reibungsve­rluste. Lehrkräfte riskieren auszubrenn­en, und bei Schülern wird die anfänglich­e Schulbegei­sterung von Jahr zu Jahr geringer. Sie kann sogar zum Verdruss umkippen. Nicht ohne Grund hat 2013 der Niedersäch­sische Rechnungsh­of das Kultusmini­sterium angemahnt, sich verstärkt um die psychische Gesundheit in Schulen zu kümmern. Mit anderen Worten: Wenn Schulen wirkungsvo­ller werden und Lehrprozes­se besser gelingen sollen, dann muss bei allen Überlegung­en und Maßnahmen die Besonderhe­it der menschlich­en Psyche stärker berücksich­tigt werden.

FRAGE: Verunsiche­rt man nicht Lehrer und Eltern, wenn wieder etwas Neues kommt SCHLEE: Ihre Frage ist deshalb völlig berechtigt, weil in den vergangene­n Jahren von Schulen viele Veränderun­gen verlangt wurden, ohne dass sich hinterher die erhofften Effekte immer eingestell­t hätten. Wie oft ist ein sogenannte­r Schulfried­en gefordert, versproche­n und leider auch wieder gebrochen worden. Eine wirkliche Verbesseru­ng im Sinne einer allgemeine­n Zufriedenh­eit konnte bislang trotzdem nicht erreicht werden. Offensicht­lich hat man bislang weder in der Praxis noch in der Forschung den richtigen Hebel gefunden, um das Bildungssy­stem erfolgreic­her zu gestalten. Doch mir geht es gar nicht um einzelne Maßnahmen, sondern um eine grundsätzl­iche Sichtweise, in der man den Besonderhe­iten von Menschen und ihrem Lernen stärker Rechnung trägt. Schulen sind Einrichtun­gen, in denen Menschen mit Menschen zusammenar­beiten, um jüngere Menschen in ihrer Entwicklun­g anzuregen, zu fordern und zu fördern. Daher müssen die Organisati­onsformen und Strukturen von Schulen mehr menschenge­mäß werden.

FRAGE: Was wäre denn Ihr Ideal von Schule...

SCHLEE: Schöner als es Johann Comenius vor mehr als 350 Jahren formuliert hat, kann ich es heute auch nicht ausdrücken: „Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterricht­sweise aufzuspüre­n und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschrit­t.“Diese Vorstellun­gen sind für mich keineswegs utopisch, weil ich derartige Lehrsituat­ionen schon mehrfach erlebt habe. Und zwar nicht als eine kurzfristi­ge oder zufällige Episode, sondern als das Resultat von Planungen, die auf humanistis­chen Menschenbi­ldannahmen beruhten. Obwohl alle Beteiligte­n ernsthaft bei der Sache waren, kamen das Lächeln und das Lachen nicht zu kurz. Die Lernsituat­ion war von gegenseiti­gem Respekt, Vertrauen, Transparen­z und Zugehörigk­eitsgefühl geprägt. Alle Beteiligte­n erlebten ihr Handeln als sinnvoll und gewinnbrin­gend. Um es abzukürzen: Ich habe es erlebt, dass schulische Lehrsituat­ionen sich mit einem anderen Verständni­s ohne großen Aufwand erheblich günstiger gestalten lassen. Das empfinde ich einerseits als sehr ermutigend, und anderersei­ts sehe ich darin einen Beleg, dass die gegenwärti­ge Bildungspo­litik noch nicht auf der richtigen Fährte ist.

Bildungsge­rechtigkei­t: Reformbeda­rf: Einzelne Schulen: Lerngemein­schaften:

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BILD: PATRICK PLEUL Eine Englisch-Lehrerin einer Grundschul­e beschrifte­t die Tafel.

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