„Mit Geld allein ist es nicht getan“
,arum in Schulen die Pausen und die Ferien zu den schönsten Dingen zählen
Woran liegt es, dass sich Deutschland hohe Ausgaben für Bildung leistet, das Ergebnis aber bescheiden anmutet. Fragen an den Psychologen und Pädagogikexperten 7örg Schlee.
FRAGE: Deutschland leistet sich hohe Ausgaben für die schulische Bildung. Wie lässt sich erklären, dass dennoch bis jetzt kaum Effekte zu erkennen sind
SCHLEE: Mit Geld allein ist die Sache nicht getan. Um schulische Bildung gelingen zu lassen, braucht man hauptsächlich gute Ideen, fruchtbare Konzepte, belastbare Annahmen sowie eine angemessene Sicht der Zusammenhänge. Schulische Bildung kann man nicht wie ein Handwerksprodukt herstellen. Sie kann allein durch das Lernen von Schülerinnen und Schülern entstehen. Lernen ist ein ganz persönlicher Vorgang. Ob und wie er gelingen kann, hängt nicht nur von den Fähigkeiten der Lehrkräfte sondern auch von den Rand- und Rahmenbedingungen in den Schulen ab. Eine Expertenkommission der Kultusministerkonferenz hat schon vor längerer Zeit gefordert, dass Lehrkräfte Experten für Lernen sowie für die Gestaltung von Lehrsituationen sein sollten. Doch sind bis heute keine systematischen Anstalten unternommen worden, dieses Expertentum präzise zu beschreiben, geschweige denn in der Lehrerbildung systematisch zu vermitteln. Ungünstig sieht es auch bei den Rand- und Rahmenbedingungen des schulischen Lernens aus. In nicht wenigen Schulen gibt es unter Schülern Konkurrenz, Spott und Häme, sogar Ausgrenzung und Gewalt. In den meisten Schulen zählen die Pausen und die Ferien zum Schönsten. Oft stehen sich auch Lehrkräfte und Schüler feindselig gegenüber. Gegenseitiger Respekt und Vertrauen sind in vielen Schulen zu Fremdwörtern geworden. Das sind alles ausgesprochen schlechte Voraussetzungen für ein erfolgreiches Lerngeschehen. Solange diese Gegebenheiten nicht problematisiert und zum Positiven hin verändert werden, darf man sich nicht wundern, wenn finanzielle Investitionen nicht den gewünschten Erfolg bringen.
FRAGE: Der neue Bildungsbericht sagt, dass trotz der hohen Ausgaben die Schere zwischen Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern und Kindern aus %igrantenfamilien immer weiter aufgeht. Wie sollte man Ihrer Ansicht nach in der Bildungspolitik Prioritäten setzen
SCHLEE: Dieser Befund bestätigt die eben ausgeführte These, dass schulische Lehrsituationen bislang nicht optimal wirksam werden können. Das liegt neben den ungünstigen Rand- und Rahmenbedingungen auch daran, dass das Lehramtsstudium Lehrer nicht umfassend genug für das Unterrichten qualifiziert. Zwar werden sie in den Kenntnissen ihrer Unterrichtsfächer sehr gut ausgebildet. Aber das ist nur die halbe Miete. Um ihr Fachwissen an die Schüler vermitteln zu können, benötigen Lehrer nämlich weitere Fähigkeiten. Sie
müssen mit den Schülerinnen und Schülern so kommunizieren können, dass die Lehrsituation durch gegenseitiges Vertrauen und eine grundsätzliche Offenheit geprägt wird. Sie müssen für eine Lern- und Arbeitsatmosphäre sorgen können, in der sich Schüler nicht verschließen, sondern erreichbar werden. Die Schüler müssen ihrerseits erfahren, dass sie ihren Lehrern nicht egal sind. Sie müssen sich wahrgenommen und ernst genommen fühlen, auch wenn ihre Leistungen und Kommunikationsformen nicht immer besonders glücklich ausfallen. Mit anderen Worten: Lehrkräfte müssen auch Experten in der Kommunikationsund Beziehungsgestaltung sein. Das gilt gerade auch für den Umgang mit Schülern aus sogenannten bildungsfernen Familien. Dieses Expertentum für Kommunikationsund Beziehungsgestaltung wird aber bislang in der Lehrerbildung vernachlässigt. Es gibt dafür weder Fächer noch Prüfungen. Die Wirksamkeit des Schulunterrichts bleibt dadurch erheblich unter ihren Möglichkeiten.
FRAGE: Was würden Sie als vordringliche %aßnahme ansehen
SCHLEE: Wenn die schulischen Lehrsituationen ertragreicher werden sollen, geht es meines Erachtens nicht um eine einzelne Maßnahme. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Sichtweise. Man muss dem Lernen und seinen Gelingensbedingungen eine größere konzeptionelle Beachtung schenken. Und zwar sowohl in den Schulen als auch in der Lehrerbildung. Ebenfalls brauchen wir in der Bildungsforschung eine andere Perspektive. Zurzeit versuchen nämlich zahlreiche Bildungsforscher, aus empirisch gewonnenen Daten Empfehlungen für das Unterrichtshandeln abzuleiten. Das halte ich für den falschen Weg. Man kann aus Tatsachen keine Ratschläge oder Hinweise ableiten. Wenn schulische Tätigkeiten wirksamer und erfolgreicher werden sollen, gebietet die Logik ein anderes Vorgehen. Als Erstes muss man theoretische Überlegungen darüber anstellen, auf welche Weise man das Lernen in Schulen und Hochschulen optimieren könnte. Dazu muss man Annahmen klären, Abwägungen vornehmen, Randbedingungen in Rechnung stellen und korrekte Schlussfolgerungen ziehen, um schließlich Hypothesen aufzustellen, die man dann in empirischen Untersuchungen auf ihre Tauglichkeit und Praktikabilität überprüfen muss. Nur wenn man auf diese Weise den theoretischen Überlegungen die Vorrangstellung einräumt, kann man für die Praxis zu sinnvollen und wirksamen Empfehlungen kommen. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass bei den theoretischen Überlegungen den Eigenarten, Potenzialen und Bedürfnissen von Menschen, also ihrer Psycho-Logik angemessen Rechnung getragen wird. Das ist bislang in Schulen nicht in dem erforderlichen Ausmaß der Fall. Vielmehr hat die Logik, nach der in Schulen Lernprozesse organisiert werden, eine große Ähnlichkeit mit der Logik von Flaschenabfüllanlagen. So wird man dem menschlichen Bedürfnis nach wertschätzender Kommunikation, respektvoller Beziehung und nach Sinn nicht gerecht. Daher entstehen im schulischen Alltag große Reibungsverluste. Lehrkräfte riskieren auszubrennen, und bei Schülern wird die anfängliche Schulbegeisterung von Jahr zu Jahr geringer. Sie kann sogar zum Verdruss umkippen. Nicht ohne Grund hat 2013 der Niedersächsische Rechnungshof das Kultusministerium angemahnt, sich verstärkt um die psychische Gesundheit in Schulen zu kümmern. Mit anderen Worten: Wenn Schulen wirkungsvoller werden und Lehrprozesse besser gelingen sollen, dann muss bei allen Überlegungen und Maßnahmen die Besonderheit der menschlichen Psyche stärker berücksichtigt werden.
FRAGE: Verunsichert man nicht Lehrer und Eltern, wenn wieder etwas Neues kommt SCHLEE: Ihre Frage ist deshalb völlig berechtigt, weil in den vergangenen Jahren von Schulen viele Veränderungen verlangt wurden, ohne dass sich hinterher die erhofften Effekte immer eingestellt hätten. Wie oft ist ein sogenannter Schulfrieden gefordert, versprochen und leider auch wieder gebrochen worden. Eine wirkliche Verbesserung im Sinne einer allgemeinen Zufriedenheit konnte bislang trotzdem nicht erreicht werden. Offensichtlich hat man bislang weder in der Praxis noch in der Forschung den richtigen Hebel gefunden, um das Bildungssystem erfolgreicher zu gestalten. Doch mir geht es gar nicht um einzelne Maßnahmen, sondern um eine grundsätzliche Sichtweise, in der man den Besonderheiten von Menschen und ihrem Lernen stärker Rechnung trägt. Schulen sind Einrichtungen, in denen Menschen mit Menschen zusammenarbeiten, um jüngere Menschen in ihrer Entwicklung anzuregen, zu fordern und zu fördern. Daher müssen die Organisationsformen und Strukturen von Schulen mehr menschengemäß werden.
FRAGE: Was wäre denn Ihr Ideal von Schule...
SCHLEE: Schöner als es Johann Comenius vor mehr als 350 Jahren formuliert hat, kann ich es heute auch nicht ausdrücken: „Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt.“Diese Vorstellungen sind für mich keineswegs utopisch, weil ich derartige Lehrsituationen schon mehrfach erlebt habe. Und zwar nicht als eine kurzfristige oder zufällige Episode, sondern als das Resultat von Planungen, die auf humanistischen Menschenbildannahmen beruhten. Obwohl alle Beteiligten ernsthaft bei der Sache waren, kamen das Lächeln und das Lachen nicht zu kurz. Die Lernsituation war von gegenseitigem Respekt, Vertrauen, Transparenz und Zugehörigkeitsgefühl geprägt. Alle Beteiligten erlebten ihr Handeln als sinnvoll und gewinnbringend. Um es abzukürzen: Ich habe es erlebt, dass schulische Lehrsituationen sich mit einem anderen Verständnis ohne großen Aufwand erheblich günstiger gestalten lassen. Das empfinde ich einerseits als sehr ermutigend, und andererseits sehe ich darin einen Beleg, dass die gegenwärtige Bildungspolitik noch nicht auf der richtigen Fährte ist.
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