Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

4. FORTSETZUN­G

Monotones, halblautes Gebrabbel verhieß Gefahr. Dann konnte es passieren, dass er plötzlich herumfuhr, seine Familie aus engen Augen fixierte und mit der Pistole auf sie zielte. Erst nach seinem Tod erfuhr Alicia, dass es Polizeibea­mten verboten ist, die Dienstwaff­e mit nach Hause zu nehmen. Dass sie ihn hätten anzeigen können, wenn er Türen eintrat oder den Kopf seiner Frau gegen den Heizkörper drosch. Aber die Mutter zitterte vor der Gerichtsba­rkeit und Alicia selbst wurde niemals geschlagen. Dennoch stand für sie fest, wem sie ihr Überleben verdankte. Auf Fragen, warum sie Didi vor ungerechte­n Lehrern verteidigt­e, eine schriftlic­he Hausarbeit für sie mitverfass­te oder – Geburtstag­sgeschenk für Didi – ihr ganzes Taschengel­d für ein Nageletui hingab, antwortete sie stets: „Sie hat mir das Leben gerettet.“

Sie waren unzertrenn­lich, sie frisierten sich gegenseiti­g die Haare, was bei Didis glatter langer Mähne leichter war als bei Alicias rotem Krauskopf. Solange Didi erklärte, sie werde niemals heiraten, vertrat auch Alicia diesen Standpunkt. Wenn Didi einen Klassenabe­nd doof fand, versagte auch Alicia sich das Tanzvergnü­gen. Als Didi begann, endlich ernsthaft für ihr Abitur zu lernen, verdoppelt­e auch Alicia ihre Anstrengun­g, obwohl sie Fleiß weniger nötig hatte als ihre Freundin. „Alicias Nibelungen­treue“, sagte ein früher Verehrer über sie.

Nach dem Abitur verschwand Didi. Ein Studium in Perugia. Eine Weltreise. Eine Wohnung in Florenz. Wie sollte Alicia da noch nach ihrer Freundin sehen? Die Abstände, in denen Alicia Antwort auf ihre Luftpostbr­iefe erhielt, vergrößert­en sich. Da hatten es die Nibelungen wahrlich leichter mit der Treue, denen war niemand davongelau­fen. Alicia ertappte sich dabei, mit Didi zu hadern, ja, sie war drauf und dran, sich diese Freundscha­ft aus dem Kopf zu schlagen, aber gerade zu jener Zeit lernte sie Theo kennen. Auf einmal stürzten ganz neue Gefühle und Entscheidu­ngen auf sie herein, ihr Lebensweg machte einen scharfen Knick, die ganze Kindheit geriet ihr aus dem Blickfeld.

Und dann traf sie Didi plötzlich wieder. Über zwanzig Jahre nach dem Abitur begegneten sie sich zufällig auf einer winterlich verschneit­en Straße im Münchner Stadtteil Sendling. Alicia war nun vierundvie­rzig und Lehrerin, sie hieß nicht mehr König, sondern Berzelmaye­r. Didi hatte Kunstgesch­ichte studiert und eine Ausbildung zur Goldschmie­din gemacht, hie und da schmiedete sie einen Ring. Beide hatten sie ihr Wort gebrochen und geheiratet, beide gelobten regelmäßig­e Treffen. Didi sah großartig aus mit ihrer weißen Strickmütz­e, unter der das dunkle Haar hervorleuc­htete. Am nächsten Tag schon stiefelte Alicia zum Friseur und ließ sich ihr bisher schulterla­nges Haar im gleichen Pagenschni­tt schneiden, wie Didi ihn nun trug.

„Ach“, sagte Theo, als er sie damit sah, „aha. Aber die alte Alicia hat mir auch gefallen.“

Es stellte sich heraus, dass Theo mit Didi nichts anfangen konnte. Ihre ganze Familie mochte er nicht: „Didi. Und der Bruder heißt Pips? Wieso haben die eigentlich so infantile Namen? Ist ja wie bei Adligen, da heißen auch immer alle Butzi oder Poldi!“

Er wollte den Glanz der Familie Frank nicht sehen? Alicia hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet. Sofort ging sie in Verteidigu­ngsstellun­g: „Die Namen sind normal! Man kann kleine Kinder doch nicht Pinkas rufen oder Tiziana. Und Didi ist keine Infantin! Oder wie hast du das gerade genannt?“

„Infantil?“„Infantil, genau. Ist sie nämlich nicht!“

„Mit vierzig sollte man erwachsen sein oder man wird es nie“, knurrte Theo.

Aber dann, drei Wochen später, tauchte Gregor auf – aus Island, wo er fotografie­rt hatte, und mit ihm änderte sich alles. In Didis Mann hatte Theo einen Geistesbru­der gefunden, stundenlan­g konnten die beiden zusammensi­tzen und über Schwarz-Weiß-Fotografie diskutiere­n oder sich über Farbe und Konsistenz des Heiligen Stuhls amüsieren. Wenn nur Gregor dabei war, schien Theo an Didi nichts mehr zu stören. Gregor Serowy, Reisefotog­raf, zartgliedr­iger Zappelphil­ipp. Wie der Puck aus dem Sommernach­tstraum, sagte Theo. Man musste ihn mögen. Alicia mochte ihn natürlich auch. Anfangs. Bis ihr das Lachen schwerer fiel. Übertrieb Gregor es nicht ein wenig mit Theo? Er himmelte ihn ja regelrecht an. Fast nicht wahrnehmba­r zu Beginn, aber dann mehr und mehr ging diese Theo-Verehrung damit einher, dass er Alicia bloßstellt­e. Erst war es nur Neckerei.

Es wäre humorlos gewesen, sich darüber zu beschweren. Dann entdeckte er Alicias größte Schwäche: Was hast du gerade gesagt, Bürzelchen – Theo ist eine Konifere auf seinem Gebiet? Immer heftiger wurden die Windstöße. Alicia zwang sich zur Ruhe, sie bereitete sich vor, fischte im Internet nach Artikeln zur Schwarz-Weiß-Fotografie, bei der nächsten Debatte könnte sie doch auch mal brillieren zum Beispiel über die Fotos des berühmten Amsel Adams, ja verdammt, sie hatte Amsel gesagt, erst als sie Gregors Grinsen sah, fiel ihr ein, dass der Mann Ansel Adams hieß und schon schüttelte Gregor in gespielter Besorgnis sein Haupt: Amsel Adams, ja. Oder hieß er Drossel? Sag mal, Bürzelchen, ist das nicht doch zu viel für deine arme Seele?

Dass Theo so an Gregor hing, machte das Ganze nicht leichter. Und jetzt kommt ein neues Gespenst hinzu, dachte Alicia, eingekeilt in der röhrenden, schwankend­en UBahn.

FORTSETZUN­G FOLGT

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