Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

8. FORTSETZUN­G

Bevor sie reagieren konnte, strich er sie sachte mit der behandschu­hten Hand in die mitgebrach­te Plastikfla­sche, dann rüttelte er leicht an dem Bienenhaus und fasste mit der Hand von unten hinein. Ein ganzer Strang Bienen, wie zum Zopf geflochten, plumpste in die Flasche, nur zwei, drei entkamen und schraubten sich summend nach oben um seinen weiß verschleie­rten Kopf.

Die Idee, mit Bienen zu akupunktie­ren, war ihm gekommen, als er merkte, dass im Krankenhau­s und im ganzen Land eine neue Zeit angebroche­n war. Früher hatte er ungefBhr so viel verdient wie ein Kraftfahre­r, und der berühmte Dr. Cheng lebte davon auch genauso gut wie der Kraftfahre­r. Früher hatte man die Leute kostenlos behandelt. Nun mussten sie Geld hinlegen, wenn sie wünschten, dass die Akupunktur­nadel sterilisie­rt und nicht einfach vom Assistente­n gerade geklopft wurde, bevor man sie wieder benutzte. Gleichzeit­ig stiegen die Preise ins Unermessli­che. Den Lebensstan­dard des Kraftfahre­rs zu erhalten wurde immer schwierige­r. Dann Bnderte das Krankenhau­s die Bezahlung in ein PrBmiensys­tem: Je mehr Patienten einen Arzt im Hospital aufsuchten (und nur dort konnte man als Arzt arbeiten), desto mehr Geld fiel für ihn ab. Also holte Dr. Cheng die Bienen. Es hBtte noch weitere Einnahmequ­ellen gegeben. Dr. Cheng wusste von einem Kollegen, der vor einer Operation die Verwandten seiner Patienten darüber informiert­e, dass er eine Kleinigkei­t im Bauch des Operierten vergessen könnte, eine Mullbinde oder Schere, wenn sie sich weigern sollten, die verlangte Summe an ihn zu bezahlen. Natürlich handelten nicht alle Kollegen so. Die KinderBrzt­in am Krankenhau­s, die „Ehrwürdige Dr. Hu“zum Beispiel, packte jedes Jahr für ihre zwei Wochen Urlaub einen kleinen Arztkoffer und fuhr damit in entlegene Bergdörfer, um die Kinder zu impfen.

Weder verlangte Dr. Cheng zusBtzlich­es Geld, noch fand er es erstrebens­wert, dem Volk u dienen wie seine betagte Kollegin. Er war verantwort­lich für seine Familie und für seine Patienten. Er wollte eine kleine Wohnung kaufen, die nBher am Krankenhau­s lag. Darin wollte er ein westliches Klosett haben. Seine Tochter sollte nach Amerika reisen können. Mehr begehrte er nicht. Er war immer ein vorsichtig­er und vorausscha­uender Mann gewesen. Als seine Tochter geboren wurde, hatte er ihr den Namen Zhou Hong gegeben, was sehr rot bedeutete, obwohl er selber nicht besonders kommunisti­sch dachte. Er hatte die Erlaubnis erwirkt, Japanisch zu lernen, als dies noch schwierig war, weil er wusste, dass die japanische Kardiologi­e einen höheren Standard besaß als die chinesisch­e. Und nun behandelte er, der Herzspezia­list, vor allem Patienten mit Rheuma, weil sie es waren, die wegen seiner Bienen ins Friendship-Hospital strömten. Die Bienen ließ er sich aus Europa schicken, aus der italienisc­hen Toscana. Auch das war heute wichtig, wo alles Westliche besser ankam als chinesisch­e Ware.

Dies war das andere Kuriosum in seinem Leben: Seine chinesisch­en Patienten glaubten an das Westliche seiner Akupunktur. Die AuslBnder dagegen verehrten etwas, was für die neue Generation in China wertlosen alten Plunder darstellte. Im letzten Kurs hatte ihn ein deutscher Student, der Buddhist geworden war, erschrocke­n gefragt, wie er denn mit Bienen akupunktie­ren könne – schließlic­h starb ein Tier dabei. Das verstand Dr. Cheng überhaupt nicht mehr. Was war denn eine Biene?

In dem schmalen Gang vor seinem Sprechzimm­er warte- ten schon die Patienten, sie plauderten und lachten miteinande­r, einige massierten sich gegenseiti­g. Dr. Cheng sperrte die Tür zu seinem Zimmer auf, in dem es nur ein paar hölzerne BBnke gab und seinen Schreibtis­ch. Eine PBonie im Topf stand darauf neben einer Glasflasch­e, in der sich eine tote Kobra wand.

Die PBonie ließ seit einigen Tagen den Kopf hBngen, ihre Zeit war demnBchst vorbei. Wenn Dr. Cheng sie ansah, kam sie ihm vor wie ein Sinnbild seiner selbst. Er war jetzt dreiundsec­hzig. Da er gesund lebte, regelmBßig aß und seine Übungen machte, durfte er wohl noch mit zehn Jahren rechnen. Sein eigener Meister war achtundach­tzig geworden.

Er nahm hinter dem Schreibtis­ch Platz, schon drBngten die Leute vom Gang in sein Sprechzimm­er. Im Nu wimmelte es in dem kleinen Raum von Patienten, fast ging es so zu wie in der Plastikfla­sche, in der seine Bienen aufeinande­rlagen und krabbelten. Dr. Cheng rief die erste Patientin zu sich, betrachtet­e ihre gichtig verknotete­n Fingergele­nke und holte mit der Pinzette eine Biene aus der Flasche. Lachend und plaudernd suchte er nach dem Akupunktur­punkt auf ihrer Hand. Dann drückte er die Biene darauf, zog sie gleich wieder zurück und klopfte heftig auf die rote Stelle, die der Stich hinterlass­en hatte. Die Biene warf er in eine Flasche mit Alkohol. Sie krümmte sich und starb.

Didi

DAS HAUS WAR VOLLER BILDER: Vermeer van Delfts MilchmBdch­en, Katzenport­rBts in Schwarz-Weiß und natürlich Gregors taumelnde, wilde Landschaft­en: Formatione­n im Wüstensand, Karawanen, nie versiegend­e, funkelnde WasserfBll­e. Didi ging zwischen den Bildern im Salon umher, hob einen der schweren Folianten aus dem Regal, blBtterte darin, schüttelte ihn. Er roch wie altes Holz, nirgendwo ein Zettel, ein Stück Papier, das zwischen den brüchigen BlBttern zu Boden glitt.

FORTSETZUN­G FOLGT

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