ALICIA JAGT EINE MANDARINENTE
8. FORTSETZUNG
Bevor sie reagieren konnte, strich er sie sachte mit der behandschuhten Hand in die mitgebrachte Plastikflasche, dann rüttelte er leicht an dem Bienenhaus und fasste mit der Hand von unten hinein. Ein ganzer Strang Bienen, wie zum Zopf geflochten, plumpste in die Flasche, nur zwei, drei entkamen und schraubten sich summend nach oben um seinen weiß verschleierten Kopf.
Die Idee, mit Bienen zu akupunktieren, war ihm gekommen, als er merkte, dass im Krankenhaus und im ganzen Land eine neue Zeit angebrochen war. Früher hatte er ungefBhr so viel verdient wie ein Kraftfahrer, und der berühmte Dr. Cheng lebte davon auch genauso gut wie der Kraftfahrer. Früher hatte man die Leute kostenlos behandelt. Nun mussten sie Geld hinlegen, wenn sie wünschten, dass die Akupunkturnadel sterilisiert und nicht einfach vom Assistenten gerade geklopft wurde, bevor man sie wieder benutzte. Gleichzeitig stiegen die Preise ins Unermessliche. Den Lebensstandard des Kraftfahrers zu erhalten wurde immer schwieriger. Dann Bnderte das Krankenhaus die Bezahlung in ein PrBmiensystem: Je mehr Patienten einen Arzt im Hospital aufsuchten (und nur dort konnte man als Arzt arbeiten), desto mehr Geld fiel für ihn ab. Also holte Dr. Cheng die Bienen. Es hBtte noch weitere Einnahmequellen gegeben. Dr. Cheng wusste von einem Kollegen, der vor einer Operation die Verwandten seiner Patienten darüber informierte, dass er eine Kleinigkeit im Bauch des Operierten vergessen könnte, eine Mullbinde oder Schere, wenn sie sich weigern sollten, die verlangte Summe an ihn zu bezahlen. Natürlich handelten nicht alle Kollegen so. Die KinderBrztin am Krankenhaus, die „Ehrwürdige Dr. Hu“zum Beispiel, packte jedes Jahr für ihre zwei Wochen Urlaub einen kleinen Arztkoffer und fuhr damit in entlegene Bergdörfer, um die Kinder zu impfen.
Weder verlangte Dr. Cheng zusBtzliches Geld, noch fand er es erstrebenswert, dem Volk u dienen wie seine betagte Kollegin. Er war verantwortlich für seine Familie und für seine Patienten. Er wollte eine kleine Wohnung kaufen, die nBher am Krankenhaus lag. Darin wollte er ein westliches Klosett haben. Seine Tochter sollte nach Amerika reisen können. Mehr begehrte er nicht. Er war immer ein vorsichtiger und vorausschauender Mann gewesen. Als seine Tochter geboren wurde, hatte er ihr den Namen Zhou Hong gegeben, was sehr rot bedeutete, obwohl er selber nicht besonders kommunistisch dachte. Er hatte die Erlaubnis erwirkt, Japanisch zu lernen, als dies noch schwierig war, weil er wusste, dass die japanische Kardiologie einen höheren Standard besaß als die chinesische. Und nun behandelte er, der Herzspezialist, vor allem Patienten mit Rheuma, weil sie es waren, die wegen seiner Bienen ins Friendship-Hospital strömten. Die Bienen ließ er sich aus Europa schicken, aus der italienischen Toscana. Auch das war heute wichtig, wo alles Westliche besser ankam als chinesische Ware.
Dies war das andere Kuriosum in seinem Leben: Seine chinesischen Patienten glaubten an das Westliche seiner Akupunktur. Die AuslBnder dagegen verehrten etwas, was für die neue Generation in China wertlosen alten Plunder darstellte. Im letzten Kurs hatte ihn ein deutscher Student, der Buddhist geworden war, erschrocken gefragt, wie er denn mit Bienen akupunktieren könne – schließlich starb ein Tier dabei. Das verstand Dr. Cheng überhaupt nicht mehr. Was war denn eine Biene?
In dem schmalen Gang vor seinem Sprechzimmer warte- ten schon die Patienten, sie plauderten und lachten miteinander, einige massierten sich gegenseitig. Dr. Cheng sperrte die Tür zu seinem Zimmer auf, in dem es nur ein paar hölzerne BBnke gab und seinen Schreibtisch. Eine PBonie im Topf stand darauf neben einer Glasflasche, in der sich eine tote Kobra wand.
Die PBonie ließ seit einigen Tagen den Kopf hBngen, ihre Zeit war demnBchst vorbei. Wenn Dr. Cheng sie ansah, kam sie ihm vor wie ein Sinnbild seiner selbst. Er war jetzt dreiundsechzig. Da er gesund lebte, regelmBßig aß und seine Übungen machte, durfte er wohl noch mit zehn Jahren rechnen. Sein eigener Meister war achtundachtzig geworden.
Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz, schon drBngten die Leute vom Gang in sein Sprechzimmer. Im Nu wimmelte es in dem kleinen Raum von Patienten, fast ging es so zu wie in der Plastikflasche, in der seine Bienen aufeinanderlagen und krabbelten. Dr. Cheng rief die erste Patientin zu sich, betrachtete ihre gichtig verknoteten Fingergelenke und holte mit der Pinzette eine Biene aus der Flasche. Lachend und plaudernd suchte er nach dem Akupunkturpunkt auf ihrer Hand. Dann drückte er die Biene darauf, zog sie gleich wieder zurück und klopfte heftig auf die rote Stelle, die der Stich hinterlassen hatte. Die Biene warf er in eine Flasche mit Alkohol. Sie krümmte sich und starb.
Didi
DAS HAUS WAR VOLLER BILDER: Vermeer van Delfts MilchmBdchen, KatzenportrBts in Schwarz-Weiß und natürlich Gregors taumelnde, wilde Landschaften: Formationen im Wüstensand, Karawanen, nie versiegende, funkelnde WasserfBlle. Didi ging zwischen den Bildern im Salon umher, hob einen der schweren Folianten aus dem Regal, blBtterte darin, schüttelte ihn. Er roch wie altes Holz, nirgendwo ein Zettel, ein Stück Papier, das zwischen den brüchigen BlBttern zu Boden glitt.
FORTSETZUNG FOLGT