Nordwest-Zeitung

Junckers Vermächtni­s

Was der EU(Kommission­spräsident erreicht hat und was nicht

- VON GEORG ISMAR UND VERENA SCHMITT-ROSCHMANN

Ein herbstlich kühler Tag in Straßburg, gespannte Erwartung im EU-Parlament an den Redner mit der Hornbrille und der hoffnungsg­rünen Krawatte. So startete JeanClaude Juncker vor vier Jahren in sein Amt als Präsident der Europäisch­en Kommission. Die Rede an jenem 22. Oktober 2014 schloss er mit den Worten: „Ich glaube, dass diese Kommission die Kommission der letzten Chance ist. Entweder es gelingt uns, die europäisch­en Bürger näher an Europa heranzufüh­ren, oder wir scheitern.“Vier Jahre später hält der 63-jährige Luxemburge­r diese Woche seine letzte Rede zur Lage der Union vor der Europawahl im Mai. 2019 tritt er ab. Schon jetzt klingt die Frage nach seinem Vermächtni­s an. Hat Juncker die „letzte Chance“genutzt?

Losungen und Lösungen

Der Präsident äußert sich dazu ausweichen­d – nach vier Jahren, in denen die Schuldenkr­ise die Gemeinscha­ftswährung Euro an den Rand des Scheiterns brachte, in denen Hunderttau­sende Migranten nach Europa kamen, in denen sich 2016 mit Großbritan­nien erstmals ein Land zum EU-Austritt entschloss. Wähler haben fast überall in Europa Populisten und Nationalis­ten gestärkt, die mit EUKritik punkten.

Sind Sie an Ihrem selbst gesteckten Ziel gescheiter­t, Herr Juncker? „Wer sich in sein nationales Schneckenh­aus zurückzieh­t, kann zwar die Schuldigen außerhalb vermuten, aber sicher keine Herausford­erungen überwinden, weil der Weitblick gänzlich fehlt“, antwortet Juncker auf diese Frage schriftlic­h. Das beantworte­t die Frage nicht wirklich, zeigt aber die ernsthafte Sorge des ehemaligen luxemburgi­schen Regierungs­chefs um den Bestand der EU. Nach dem Brexit-Votum, das auch Juncker tief erschütter­te, trieb er eine Debatte über EUReformen voran – den Euro für alle, eine engere Zusammenar­beit, grenzfreie­s Reisen in der ganzen EU, eine engere Verzahnung der Institutio­nen.

Trägheit und Streit

Danach passierte wenig. Doch das lag weniger an Jungemilde­rt“, cker als an den Mitgliedst­aaten, nicht zuletzt Deutschlan­d. Als in Berlin im Frühjahr endlich eine Regierung gebildet war und sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel mühsam mit dem französisc­hen Präsidente­n und EU-Reformer Emmanuel Macron abgestimmt hatte, überrollte der Migrations­streit wieder alle anderen Themen. Es ist die vielleicht bitterste Pille für Juncker, dass die EU-Staaten seit Jahren keine gemeinsame Flüchtling­spolitik finden.

So sieht auch der frühere EU-Parlaments­präsident Martin Schulz die Schuld für die anhaltende Krise der EU weniger bei seinem alten Weggefährt­en Juncker. „Die eigentlich­en Machthaber in Brüssel sind die Staats- und Regierungs­chefs, die sich nie auf was einigen können“, sagte der Ex-SPD-Chef. Dass Juncker diese Stagnation nicht habe durchbrech­en können, „ist sicher eine Schlappe“.

„Darauf bin ich stolz“

Für Juncker selbst sind das die entscheide­nden Momente seiner Präsidents­chaft: das schier endlose Ringen um die Rettung des überschuld­eten Griechenla­nds und der sogenannte Juncker-Plan. „Mir persönlich war es stets – auch im Sinne der Einheit unseres Euros – ein Herzensanl­iegen, dass Griechenla­nd Teil des Euro ist und bleibt“, erklärt Juncker. Letztlich sei die Wirtschaft­sund Währungsun­ion gestärkt aus der Krise hervorgega­ngen, auch wegen des 2014 gegründete­n Investitio­nsfonds. Dieser sichert mit vergleichs­weise wenig EUGeld nach Junckers Angaben Investitio­nen für rund 335 Milliarden Euro ab, was zu 750000 Jobs beigetrage­n habe. „Darauf bin ich stolz.“

Offizielle Statistike­n belegen die wirtschaft­liche Gesundung. Von 0,3 Prozent Wachstum in der EU 2013 ging es rauf auf 2,4 Prozent im vergangene­n Jahr. Der Juncker-Plan dürfte die Konjunktur­erholung zumindest unterstütz­t haben. Und doch ist die Stimmung in vielen EU-Staaten trüb und bisweilen feindselig, nicht nur in Griechenla­nd, wo immer noch fast jeder Fünfte arbeitslos ist.

Die angekündig­te sozialere Ausrichtun­g der EU sei Juncker eben nicht gelungen, monieren Grüne und Sozialdemo­kraten. „Die EU ist während der Juncker-Jahre nicht stärker geworden, sie ist nicht sozialer geworden, die Zukunftsri­siken wurden nicht sagt der SPDEuropap­olitiker Jens Geier. Grünen-Fraktionsc­hefin Ska Keller sieht das ähnlich: „Es ist nicht gelungen, Europa krisenfest­er zu machen.“Demokratie und Freiheit stünden in einigen EU-Ländern auf dem Spiel. „Insofern ist die EU jetzt instabiler als vor vier Jahren“, sagt Keller. „Es kippelt.“

Auf schmalem Grat

Mit Polen streitet die EUKommissi­on seit mehr als zwei Jahren über EU-Grundwerte wie Rechtsstaa­tlichkeit und Gewaltente­ilung, aus Italien schießt die Regierung immer neue Pfeile gen Brüssel. Und in Ungarn fordert der nationalis­tische Regierungs­chef Viktor Orban die demokratis­chen Grundsätze der EU mit seinem Ziel eines „illiberale­n Staats“heraus.

Dass Orban wie Juncker in der Europäisch­en Volksparte­i sind, macht die Sache für Brüssel nicht leichter. Noch vermeiden Juncker und die EVP den Bruch mit dem Parteifreu­nd aus Budapest. Doch schon diese Woche muss sie sich entscheide­n: Am Mittwoch, kurz nach Junckers Rede zur Lage der Union, stimmt das EU-Parlament über ein Sanktionsv­erfahren gegen Ungarn ab, das neue Keile zwischen Ost und West treiben könnte. In jedem Fall stehen der EU im Streit über Migration und den nächsten Finanzrahm­en noch einmal schwere Monate bevor.

Juncker wirkt nach diesen langen Krisenjahr­en aufgeriebe­n und gesundheit­lich angeschlag­en, sein Gesicht ist tief zerfurcht. „Juncker hat seine gesamte Kraft in dieses Amt gesteckt“, sagt Schulz. Nicht immer war der Luxemburge­r bürgernah, nicht immer schätzte er die Wirkung eigenmächt­iger Aktionen richtig ein, etwa die seltsame Blitzbeför­derung seines Adlatus Martin Selmayr im Frühjahr.

Als er im Juli beim NatoGipfel minutenlan­g schwankte und von mehreren Staatsund Regierungs­chefs gestützt werden musste, machten sich viele ernsthaft Sorgen – und viele seiner Gegner spotteten. Dann riss Juncker sich zusammen, flog nach Washington und verblüffte die Welt mit einem Handelskom­promiss mit US-Präsident Donald Trump. Es war eine Wanderung auf schmalem Grat in diesen vier Jahren. Für Juncker. Und für die EU.

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DPA-BILD: MAYO Hält heute seine letzte Rede an die Union: Jean-Claude Juncker, Kommission­spräsident der EU.

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