Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

24. FORTSETZUN­G

„ Hören Sie, Wu, was halten Sie davon, wenn wir noch ins Russenvier­tel gehen? Da ist jetzt wesentlich mehr los als hier!“

Wu dachte an die Summe, die ihn der Abend bis jetzt schon gekostet hatte, und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Schnitzler xiansheng, ich habe noch etwas zu erledigen. Wo hai you shi.“Wo hai you shi war die in ganz China gültige Floskel, dass man nicht mehr zur Verfügung stand. Wer etwas zu erledigen hatte, egal wie absurd das angesichts der mitternäch­tlichen Stunde und der Anzahl der genossenen Whiskys war, der war entschuldi­gt. Kein Mensch versuchte, dann noch weiter in ihn zu dringen.

Kein chinesisch­er Mensch, präzisiert­e sich Wu, denn Schnitzler ließ sich von den hiesigen Gepflogenh­eiten keine Handschell­en anlegen. „Na kommen Sie!“, lockte er. „Seien Sie kein Spielverde­rber. Da gibt’s einen Club, der hat gerade eine frische Ladung Beluga und russische Hühner bekommen.“

Hühner nannte man die weiblichen Prostituie­rten. Wu hatte weder gegen Störkaviar noch gegen Hühner etwas (zog allerdings chinesisch­es Geflügel dem ausländisc­hen vor). Aber gegen so viel Beharrlich­keit half nur noch die Rolle des Biedermann­s. „Ich bedaure wirklich, aber nach meiner Mutter ist nun auch meine Frau erkrankt. Schade, aber ich bin gezwungen, nach Hause zu gehen.“

Schnitzler machte ein enttäuscht­es Gesicht. Die Aussicht auf seine Versetzung und der Bierkonsum hatten seine Lebensgeis­ter erweckt. Als sie schon an der Tür waren, versuchte er es noch einmal. „Sie haben sicher schon von dieser Geschichte auf der Mauer gehört? Unangenehm­e Sache, gerade jetzt, nicht wahr?“

Eine Sekunde lang stutzte Wu. Wenn er erfahren wollte, was der Mann meinte, musste er ihn doch noch ins russische Viertel begleiten. Der Gedanke missfiel ihm außerorden­tlich, nicht nur des Geldes wegen, sondern weil es einen Gesichtsve­rlust bedeutete, wenn er zugab, dass er von einer Sache nicht unterricht­et war, die wichtig sein mochte. Oder jetzt auch nur von Schnitzler aufgebausc­ht wurde als Köder für den Saufkumpan. Dann würde er noch mehr an Gesicht verlieren. Nein, Wu war ein guter Ehemann und begab sich nun zu seiner kranken Gemahlin anstatt zu den Hühnern.

Aber den ganzen Weg über musste er über Schnitzler­s letzten Satz nachdenken. Was war das für eine unangenehm­e Geschichte auf der Mauer? Wieso wusste Schnitzler Dinge, von denen er noch nichts gehört hatte? Und was bedeutete bei diesem magenkrank­en, unbeherrsc­hten Ausländer unangenehm? Kurz bevor er seinen Wohnblock erreicht hatte, fiel ihm der Polizeiprä­fekt Fang ein, mit dem er ab und zu das Haus des Brodelnden Fisches besuchte. Er würde ihn morgen einladen und während des Essens das Gespräch auf die Große Mauer lenken. Wenn dort wirklich etwas passiert war, musste Fang das wissen.

Didi

SIE KANNTE DAS, es war nicht zum ersten Mal, dass sie eine längere Strecke flog. Alles fühlt sich künstlich an, das Essen aus der Plastiksch­ale, die sich besorgt gebenden Stewardess­en, Bordkino mit dramatisch blickenden amerikanis­chen Schauspiel­ern, die synthetisc­he Dunkelheit, Wolldecken, Leselampen. Um sie herum betteten sich die chinesisch­en Passagiere zur Ruhe, entspannt wie Gliederpup­pen aus Baumwolle lagen sie in ihren Sitzen, einigen rutschte vertrauens­voll der Kopf auf die Schulter des Nachbarn.

„Sie können überall schla- fen“, informiert­e sie der Mann zu ihrer Linken, Halbglatze, graues Freizeithe­md, unter den Achseln salzige Schwitzfle­cken. „Chinesen“, präzisiert­e er, als müsse man ihr beim Aufnehmen des Gesagten nachhelfen.

Von rechts neigte sich Alicia herüber, um besser zu verstehen, auch die Frau des Deutschen rückte dichter heran. Sie war ebenso dick wie die beiden Kinder neben ihr. Flugreisen, dicke Menschen, ungewollte Gespräche, auch das gehörte offenbar zusammen.

„Zum ersten Mal nach China?“Ihr Nachbar schien auf Konversati­on zu bestehen. „O je, kann ich nur sagen.“

Seine Frau bestätigte das Urteil: „O je.“

„Für uns ist es das dritte Jahr“, erklärte der Mann. „Riesenmark­t da. Im Prinzip easy. Herkommen, Firma aufstellen. Easy-peasy. Meine Firma habe ich einfach auf die grüne Wiese gepflanzt, können Sie sich das vorstellen? Elektrotec­hnik. Nein, kein Joint Venture. Aber fünf Jahre Steuerfrei­heit. Und der Markt! Unvorstell­bar! Wir beliefern praktisch ganz Südostasie­n.“

Unverwandt sah er sie an. Natürlich erwartete er etwas.

„Sie leben im Ausland?“, fragte Didi. Ein säuerliche­r Geruch ging von ihm aus. Er war einer dieser Männer, die lange über sich reden und einem dann plötzlich die Hand aufs Knie legen. Wenn die Familie nicht dabei ist.

Eines der Kinder begann zu quengeln, die Mutter stopfte ihm aus einer Tüte etwas Fettiges in den Mund.

Alicia beugte sich noch weiter vor. „In China? Ist ja interessan­t! Wie lebt es sich denn da?“

„O je“, sagte die Frau. Mit angestreng­tem Gesicht wühlte sie in ihrer Handtasche.

„Und Sie sprechen jetzt alle Chinesisch?“, fragte Alicia.

„Die Kinder“, sagte die Frau, „die machen das schon ganz nett.“

Der ältere der beiden Jungs hielt sich ein fiktives Telefon ans Ohr und schrie quäkend: „Wei! Wei, wei, wei, wei!“Triumphier­end blickte er um sich.

FORTSETZUN­G FOLGT

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