Was den Bürger verunsichert
Richterbund-Vorsitzender Gnisa betrachtet Probleme aus Sicht Betroffener
Viele Bürger fragen sich, was ist los? Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein, sagt der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa (55). Der Jurist macht eine Verunsicherung aus, eine Vertrauenskrise, von der auch die Justiz betroffen sei. Jeden Tag bekomme er Briefe von besorgten Bürgern.
Um die Phänomene zu ergründen, die die Bürger beunruhigen, nimmt Gnisa die Sicht der Betroffenen ein. An vier Ereignissen ließe sich das gesellschaftliche Unwohlsein festmachen. Da sei die Flüchtlingskrise, die so erlebt werde, dass der Staat die Kontrolle verloren habe. Hinzu kämen Terroranschläge, schließlich die Verunsicherung der Migranten durch die spät aufgedeckten Terroranschläge des NSU (Nationalsozialistischer Untergrund). Dazu tritt ein Gefühl der Unsicherheit durch Kriminalität – Tötung einer jungen Frau in Freiburg durch einen Migranten oder Beunruhigendes wie Angriffe auf Rettungskräfte.
Der Richterbund-Vorsitzende hat weitere Beobachtungen gemacht: „Bürger vertrauen
den Fachleuten nicht mehr.“Obwohl die Kriminalstatistik sinkende Zahlen nennt, herrscht ein Gefühl ständiger Zunahme von Kriminalität vor. Schlimmer: Vor Gericht gibt es das Gefühl, „es geht nicht mehr gerecht zu“, recht bekomme, wer auf den besseren Anwalt oder den gnädiger gestimmten Richter trifft. Gnisa, der in Bielefeld Direktor des Amtsgerichts und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes ist, sieht das Recht unter Druck, weil anstelle des rechtlichen Standpunkts moralische Haltungen treten. Ein Bürgermeister verweigert der rechtsextremen, aber nicht verbotenen NPD einen öffentlichen Saal für eine Veranstaltung und setzt sich über ein entsprechendes Gerichtsurteil hinweg. „Moral gegen Recht. Wenn die Gerichte anders entschieden haben, ist das falsch“, sagt Gnisa. Er kennt viele solcher Beispiele aus der eigenen Erfahrung. In der Emotionalisierung der Gesellschaft sieht er die Quelle ständiger Aufgeregtheit. Emotion sei aber das Gegenteil von dem, was die Juristen wollen. Nur kämen die mit ihrem Entscheidungssystem zu spät, um solche Aufgeregtheiten einzudämmen. Und das untergrabe die Autorität der Richter, trage dazu bei,
dass der Respekt vor dem Amt weiche.
Was kann der Jurist Gnisa tun? Zunächst einmal ist Gnisa ein eloquenter Vortragender, einer der ein rhetorisches Feuerwerk abbrennt, sein Publikum unterhält, in jeder Talkshow eine Bereicherung wäre. Er ermuntert dazu, den Rechtsstaat zu stärken. Dazu müssten sich die Repräsentanten auch an das Recht halten (Stichwort Flüchtlingskrise, Grenzöffnung; Staatsschuldenkrise, Ankauf von Anleihen durch die EZB. Beides sei nicht hundertprozentig auf seine Rechtmäßigkeit geklärt). Zum Zweiten müsse man fragen, ob das Recht nicht zu stark ausgebaut sei zulasten der individuellen Freiheit. Das Recht dürfe auch keine Graubereiche zulassen (etwa wenn Straftäter entlassen würden, weil die Anklagebehörde oder Gerichte überlastet seien). Und die bessere Darstellung der Justiz in der Öffentlichkeit ist Gnisa ein Anliegen. „Es wird über uns diskutiert, aber nicht mit uns“, hat er festgestellt und ermuntert seine Kollegen in sozialen Netzwerken mitzutun.