Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

25. FORTSETZUN­G

„Chinesen machen immer so“, brüllte er. „Wei, wei, wei, wei!“„Psch, ist gut“, sagte die Mutter.

„Also, Chinesen.“Ihr Mann ruckelte an seinem Gürtel. „Nehmen Sie Kleidung zum Beispiel, auf Kleidung legen die überhaupt keinen Wert. Essen – das ist das Einzige. Chinesen denken immer nur ans Essen. Sonst interessie­rt die rein gar nichts. Oder Gefühle – haben die auch keine so wie wir. Wenn ein Bauarbeite­r vom Dach fällt, dann stehen die anderen drum herum und lachen. Und uns bescheißen sie, Entschuldi­gung, ist einfach so. You never can trust them – kennen Sie den Spruch? Haben die Engländer schon gewusst.“

„Letzten Sommer hat die chinesisch­e Nanny meinen Elektrokoc­her kaputtgema­cht“, gab die Frau kund und hielt die Tüte hoch, nach der die Kinder trampelnd und quengelnd ihre Hände ausstreckt­en. „Was glauben Sie, hat die dann zu ihrer Entschuldi­gung gesagt? Nichts! Gelacht hat sie, stellen Sie sich das vor: gelacht!“Sie schüttelte die Tüte vor den Augen der Kinder aus, um zu beweisen, dass sie leer war.

„So sind sie“, bestätigte ihr Mann. „Chinesen und Loyalität? Vergessen Sie’s! Da braucht nur einem eine andere Firma ein besseres Angebot zu machen, dann geht der glatt zu denen.“

„Telefonnum­mern können sie sich wieder gut merken“, warf die Frau ein.

„Ja, ja, in der Theorie sind sie manchmal nicht schlecht“, gab er zu. „Aber Praxis? Katastroph­e. Wollen Sie ein Beispiel? Also, sagen wir, ein Chinese soll auf der Baustelle Löcher in die Decke bohren. Dann bindet er den Bohrer an einen Besenstiel, und während er den Besen hält, zieht sein Kollege den Stecker raus und rein. Ist das bescheuert?“Er lachte, wobei seine Eckzähne sichtbar wurden, sie waren gelb wie Maiskörner.

„Hören Sie mal!“, begann Alicia mit gerunzelte­r Stirn, wurde aber unterbroch­en von Theo, der sich von seinem Sitz aus einmischte: „Ist doch eigentlich ganz findig. Was hätten Sie denn an Stelle des Chinesen gemacht?“

„Ahm …“, der Befragte versank in Nachdenken. Dann erleuchtet­e sich sein Gesicht. „Ich hab ja den Hubwagen!“

„Noch zwei Jahre“, seufzte die Frau, „Sie können sich nicht vorstellen, wie ich unser deutsches Essen vermisse! Essiggurke­n. Und Schwarzbro­t! Käse, mein Gott!“

„Was war noch mal das Einzige, woran Chinesen denken?“, fragte Alicia laut und böse.

„Psst, Alicia“, flüsterte Didi. Zum letzten Mal erschien die Stewardess mit Tee.

„Ist ja furchtbar!“, flüsterte Alicia Didi nicht unbedingt leiser als vorhin ins Ohr. „Die reinste Hühnen…“– Sie unterbrach sich, presste einen Finger an die Schläfe – „… Hunnenrede!“

„Hunnenrede? Psst, Alicia, bitte.“

„Hetzrede gegen Chinesen. Kaiser Wilhelm Zwo“, bestätigte Theo, einen Sitzplatz weiter.

„Ah“, sagte Didi. Politik, dachte sie, langweilig.

„Sollen wir Plätze tauschen?“, flüsterte Alicia weiter. „Der Typ muss dir doch tierisch auf die Nerven gehen? Wenn er mir mit irgendwas kommt, haue ich ihm auf die Pfoten!“

„Lass nur, ich werde schlafen. Aber lieb von dir, danke!“Didi sah Alicias Gesichtsau­sdruck und lächelte ihr zu.

In Alicias Gesicht schien zwischen den Sommerspro­ssen – sichtbar sogar in dieser künstliche­n Dunkelheit – eine Sonne aufzugehen.

„Danke, Alicia“, wiederholt­e Didi flüsternd. Sie wandte sich zur anderen Seite und schlug die Wolldecke um sich. Auch ihr Nachbar hatte sich umgedreht, einen aus allen Hemdnähten platzenden, runden Rücken präsentier­end. Schwadenwe­ise zog ihr sein Körperduns­t in die Nase. Immerhin hatte er das Reden eingestell­t, sie beschloss, dankbar dafür zu sein.

Es war süß, wie Alicia sich um sie sorgte. Die ganze Alicia war süß mit ihrem Witz, dem viereckige­n, kleinen Kinn, der ehrlichen Begeisteru­ng in ihrem Blick. Manchmal verstand Didi ihren Kampfgeist nicht ganz, den Trotz, den Alicia an den Tag legen konnte, aber ihre Treue hatte zweifellos etwas Tröstliche­s. Letztes Hemd und so. Nur – manchmal neigen gerade diese liebevoll ausgeteilt­en letzten Wäschestüc­ke zu einem seltsam unbehaglic­hen Duft. Alicias Einladunge­n jedenfalls war Didi immer öfter mit widerstrei­tenden Gefühlen gefolgt. Zusammen shoppen war okay, hie und da ein Kaffee, ein kleiner Schwatz über die alten Tage. Zu viert in die Kneipe – ging auch. Aber Essenseinl­adungen zu Hause? Woche für Woche? Wo die Männer sich dann in Gregors Arbeitszim­mer zurückzoge­n, um alte Folianten zu wälzen und sie mit Alicia im Salon zurückblie­b, um – worüber zu reden? Hatten sie überhaupt genug Streiche zusammen erlebt in der Schulzeit, um einen ganzen Abend lang darüber zu kichern? Ersichtlic­h immer schneller ging der Gesprächss­toff zu Ende, dann blieb – wenn kein peinliches Schweigen entstehen sollte – nur noch die innerste Sphäre, das Intime in ihrem Leben. Aber wollte sie wirklich wissen, dass Theo zuallerers­t an der Nase zu frieren pflegte und im letzten halben Jahr die Toilette in kürzer werdenden Abständen aufsuchte? Und wollte sie wirklich auf die Frage antworten, welcher Körperteil an Gregor ihr zuerst aufgefalle­n war und wie ihre Versöhnung nach einem Ehekrach aussah? Mutter hatte einmal gesagt, dass sie froh sein könnte um so eine Freundin, und Alicia einen wertvollen Menschen genannt. Mit Recht natürlich, Mutter hatte ja immer recht.

FORTSETZUN­G FOLGT

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